
Entwicklung | Zeit lernen
Wie Kinder ein Gefühl für die Zeit entwickeln
Kinder haben ein völlig anderes Zeitgefühl als Erwachsene. Wie entwickelt sich ihr Verständnis von Zeit? Und wie können Eltern Zeitbegriffe am besten vermitteln?
Frühmorgens in einem Haushalt mit Kindern: Die Erwachsenen sind gedanklich schon auf dem Weg ins Büro, haben im Kopf mehrfach die 89 Punkte umfassende To-do-Liste des Tages gecheckt, während sich der Nachwuchs nicht aus der Ruhe bringen lässt: Selbstvergessen wägt er ab zwischen Gummistiefeln und Sandalen oder muss – völlig im Spiel versunken – unbedingt das Legohaus fertig bauen. Angesichts so viel buddhistischen Gleichmuts fühlen sich Erziehungsberechtigte schnell provoziert und tendieren dazu, die tagtägliche Langsamkeit ihrer Sprösslinge als Zeichen mangelnder Kooperationsbereitschaft auszulegen. Tatsächlich aber können Kinder einfach nicht anders. Denn im Gegensatz zu Erwachsenen, die Zeit als kostbare ökonomische Ressource begreifen, haben die Kleinen ein noch unentwickeltes Zeitgefühl.
Bis zum zweiten Lebensjahr leben Mädchen und Buben fast ausschliesslich in der Gegenwart. Nur begrenzt können sie in diesem Alter differenzieren zwischen andauernden und bereits abgeschlossenen Ereignissen. Selbst mit drei und vier Jahren fällt es ihnen noch schwer, Sprechzeit und Ereigniszeit auseinanderzuhalten; «morgen» kann dann genauso gut auch «vor einer Woche» heissen. «Diese Unterscheidung gelingt ihnen sprachlich und kognitiv erst im fünften Lebensjahr», sagt Erziehungswissenschaftler Tilmann Wahne, der zum Thema kindliches Zeiterleben an der Leuphana Universität Lüneburg mit eigener Forschung promoviert.
- «In einer Stunde sind wir da.»– «Noch so lange, bis das Hörspiel aus ist.»
- «Übermorgen fahren wir zu Oma.» – «Noch zweimal schlafen.»
- In fünf Minuten gehen wir los!» – «Wenn ich die Wäsche aufgehängt habe, gehen wir los.»
- «In einer halben Stunde kommt dein Freund.» – «Noch so lange, wie eine Pippi-Langstrumpf- Folge dauert.»
- «Weihnachten ist in drei Monaten.» – «Erst kommen die Herbstferien, dann wirds kälter und du musst wieder Mütze und Schal anziehen; dann schneits vielleicht, dann kommt der Samichlaus, und dann … endlich!»
Zeitangaben sind abstrakt
Hinzu kommt: Für Vier- bis Fünfjährige vergeht die Zeit immer nur, wenn etwas passiert: Ein Puzzle zusammen setzen, Glace essen, ein Bild malen. Dass die Zeit unabhängig von Ereignissen verrinnt, also auch, wenn scheinbar überhaupt nichts passiert, begreifen Kinder erst ab dem Primarschulalter. Noch schwieriger sind für sie komplexe Dinge, die sie kulturell erst erlernen müssen – wie etwa das Zeitgefühl. Dieses benötigen sie, um abzuschätzen, wie lange die von der Mutter angekündigten zehn Minuten dauern, bis die Familie sich auf den Weg ins Schwimmbad macht. Solche Angaben sind für Kinder viel zu abstrakt – erst wenn sie in die Schule gehen und die Uhr lesen gelernt haben, entwickeln sie nach und nach ein Gefühl für Zeiteinheiten. Davor jedoch stossen Sätze wie «in fünf Minuten ist Schluss» buchstäblich auf taube Ohren.
Was nichts daran ändert, dass Kinder mit Zeitbegriffen regelrecht bombardiert werden. Denn Erwachsene lieben es, ihre Sätze mit zeitbezogenen Formulierungen zu spicken, wie «gleich», «sofort», «Moment», «nur noch ein bisschen» oder «bald». Wer möchte, dass sein Nachwuchs damit etwas anfangen kann, sollte an die Zeitangaben jeweils ein Ereignis knüpfen, rät Marc Wittmann, Psychologe und Autor des Buchs «Gefühlte Zeit». Etwa «nach dem Essen», «wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast» oder «nach dem Kindergarten». Was viele Eltern ohnehin intuitiv machen. Zeitgefühl jedenfalls, so Wittmann, erlernen Kinder nur durch konkrete Erlebnisse (siehe Infobox).
Schon immer lebten Menschen in Zeiteinheiten, die ihr Handeln strukturierten. Was früher Sonnenuntergang oder Hahnenkrähen leisteten, wurde mit der Industrialisierung von einer neuen, präziseren Zeitrechnung abgelöst: der Uhr. Das Empfinden für Zeit ist jedoch stark kulturell geprägt. Eltern in unseren Breitengraden verstehen Zeit als messbaren Wert, der uns determiniert. Unseren Kindern leben wir eine Zeitkultur vor, die grossen Wert auf Pünktlichkeit legt, auf Tagesstruktur, Eile und Belohnungsaufschub. Die Einhaltung dieser Normen erwarten wir auch von unserem im Hier und Jetzt lebenden Nachwuchs – spätestens ab dem Schuleintritt.
Tatsächlich jedoch sehen sich heute bereits Kita-Kinder einem Zeitkorsett ausgesetzt; von eng getakteten Freizeitstundenplänen ganz zu schweigen. Und sind beide Elternteile berufstätig, braucht es ohnehin aufwendig ausgeklügelte Zeitpläne – während sich gleichzeitig Arbeit und Privates immer mehr vermischen und von allen Seiten flexibles Handeln gefordert wird.
Angesichts dieser gesellschaftlichen Veränderungen ist es umso wichtiger, Kinder früh an Zeitgestaltung teilhaben zu lassen, findet Erziehungswissenschaftler Wahne – «damit sie einen gelingenden Umgang mit Zeit erlernen können und später für die Anforderungen, wie dem flexiblen Umgang mit Zeit, gerüstet sind.» Denn wer im Laufe seiner Bildungsbiografie immer vorgeschrieben bekommt, was er wann tun soll, dem fällt es an der Uni häufig schwer, plötzlich ohne zeitliche Vorgaben zu arbeiten.
Spielen statt Vorlesestunde
«Bereiten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, in die wir unsere Kinder schicken, auf diese Anforderungen vor?», wollte Wahne in seiner Dissertation wissen. Antwort: Eher nein. Fremdbestimmung dominiere in vielen der von ihm untersuchten Institutionen. Doch Bildung, so der Erziehungswissenschaftler, vollziehe sich nicht nur in pädagogischen Angeboten, sondern vorrangig auch im Spiel. Es gehe deshalb darum, situativ auf Kinder einzugehen, sie zum Beispiel im Kindergartenalltag weiter spielen zu lassen, anstatt die auf dem Plan stehende Vorlesestunde durchzusetzen. «Denn nur wer zeitlich mitbestimmen darf, kann sich Zeitkompetenz aneignen.»
Aber auch Eltern sollten ihren Umgang mit Zeit hinterfragen. «Die meisten von uns sind ständig in Eile», sagt Wahne, «hetzen die Kinder, die sich jedoch nicht antreiben lassen, weil sie Zeit anders empfinden und nicht nachvollziehen können, was wir von ihnen wollen. Sie müssen nämlich tatsächlich dieses eine wichtige Spiel zu Ende spielen.»
Für diese Eigenschaft ist der Nachwuchs eigentlich zu beneiden. Im Gegensatz zu Erwachsenen, denen es mit zunehmendem Alter erscheint, als zögen Wochen und Monate immer schneller an ihnen vorbei, vermögen Kinder ganz im Moment, im Flow, aufzugehen. «So lange man Dinge das erste Mal erlebt, nimmt man alles viel langsamer und intensiver wahr», erklärt Psychologe Wittmann dieses Phänomen. «Ab etwa dem 20. Lebensjahr hingegen, wenn viele Meilensteine schon erreicht wurden, beschleicht uns zunehmend das Gefühl, alles ginge immer schneller.» Was dagegen hilft? Hin und wieder Routinen brechen, Neues ausprobieren. Oder einfach: öfter wie Kinder leben.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.