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Entwicklung
Wer geistert durch die Nacht?
Von Kristina Reiss
Aufstehen, umherlaufen, weiterschlafen: Schlafwandeln ist bei Kindern keine Seltenheit. Für sie selbst ungefährlich, für Eltern jedoch oft gespenstisch.
Taps, taps, taps – es ist kurz vor halb elf, der Siebenjährige sollte eigentlich seit geraumer Zeit tief und fest schlafen. Doch wie so häufig steigt er nach einer kurzen Schlafphase wie ferngesteuert aus dem Bett und taucht in der Küche auf. Orientierungslos wirkt er, blickt unfokussiert in die Ferne und zieht schliesslich die Besteckschublade auf. Am anderen Tag wird er sich an nichts mehr erinnern. Jedes dritte Kind wandert nachts umher. Schlafwandeln – eine Form der Parasomnie, zu der auch der Nachtschreck oder Sprechen im Schlaf zählen – ist eine Schlafstörung, die am häufigsten zwischen dem vierten und achten Lebensjahr auftritt.
Manche Betroffene setzen sich nur kerzengerade im Bett auf und blicken im Raum umher, andere laufen durch die ganze Wohnung, machen das Licht an oder öffnen sogar die Haustür. «Parasomnie bedeutet wörtlich ‹ neben dem Schlaf ›», erklärt Katharina Stingelin. Sie ist Somnologin am Zentrum für Schlafmedizin in Zollikon und weiss: «Die Erholsamkeit des Schlafes wird durch das nächtliche Umhergeistern nicht beeinträchtigt.» Wenn das Bewegungszentrum übernimmt Während die Schlafforschung in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht hat, ist bis heute nicht ganz klar, wie Schlafwandeln eigentlich entsteht. «Man vermutet aber, dass die Hirnreife dabei eine grosse Rolle spielt», so Somnologin Stingelin. Da bei Kindern das Gehirn noch nicht vollständig ausgereift ist, kommt es bei ihnen besonders häufig zu einer Störung in der Koordination des Schlafablaufs.
Abklären lassen?
Doch auch Stress, Schlafmangel oder Fieber können Schlafwandeln begünstigen. Eine Parasomnie tritt meist in der ersten Hälfte der Nacht auf, während des Tiefschlafs. Bei Menschen, die zum Schlafwandeln neigen, ist in dieser Phase der Teil des Gehirns wieder wach, der für die Motorik zuständig ist. Was wiederum dazu führt, dass Betroffene beispielsweise das Bett verlassen. Ihr Gehirn erwacht dabei jedoch nicht vollständig, sondern nur teilweise: Während Hirnareale, die Bewegung steuern, aktiv sind, bleiben andere Bereiche, die etwa für Bewusstsein und Erinnerung zuständig sind, im Schlafzustand. Schlafwandelnde können also aufstehen, umhergehen, Türen öffnen, Essen zubereiten oder sogar das Haus verlassen. Aber sie erinnern sich am nächsten Tag nicht daran – solange sie aus dieser Episode nicht erwachen.
Zu Katharina Stingelin kommen regelmässig Eltern, die sich Sorgen machen, weil ihr Nachwuchs nachts unterwegs ist, und sich fragen: «Sollten wir das Schlafwandeln unseres Kindes medizinisch abklären lassen?» Die Somnologin schüttelt den Kopf. «Nein, Schlafwandeln ist komplett unbedenklich.» Man könne natürlich schauen, ob es auslösende Faktoren gibt – wie etwa Medikamenteneinnahme, Fieber oder Stresssituationen. Sei dies jedoch nicht der Fall, gelte vor allem eines: «Die Umgebung so zu sichern, dass während des Schlafwandelns nichts passiert.» Denn darin liegt die grösste Gefahr des nächtlichen Umhergeisterns. Oft führen Betroffene beim Schlafwandeln Handlungen aus, die sie vollkommen automatisiert haben: in die Küche gehen, den Kühlschrank öffnen, im Bad ein Handtuch holen. «Auch vom Hochbett herunterklettern ist kein Problem – wenn das Kind dies zuvor bereits tausendmal gemacht hat», so Stingelin. Dasselbe gilt auch für Treppensteigen im Haus. Schwierig wird es jedoch, wenn auf besagter Treppe ein Pulli liegt oder ein Buch. Denn wer schlafwandelt, hat zwar in der Regel die Augen offen, verfügt aber nicht über seine volle visuelle Sehkraft.
Deshalb lautet Katharina Stingelins wichtigster Tipp: «Gut aufräumen, bevor man ins Bett geht!» und dafür sorgen, dass auf dem Boden keine Legosteine oder sonstige Stolperfallen verteilt sind. Je nach Aktivität der schlafwandelnden Person könne es ausserdem nicht schaden, eventuell an Fenstern Schlösser anzubringen, Kindersicherungen an besonders steilen Treppen zu montieren und generell dafür zu sorgen, dass das Haus nicht verlassen werden kann.
Katharina Stingelin, Schlafmedizinerin
Bitte nicht wecken
Doch wie verhalten sich Eltern am besten, die nachts immer wieder einem kleinen herumspukenden Geist begegnen? «Am besten sanft ins Bett zurückführen und nicht wecken – ausser das Kind ist gerade dabei, aus dem Fenster zu klettern», rät die Schlafexpertin. «Wecken führt bei den Betroffenen nämlich nur zu Verwirrung und Angst.» Zumal Schlafwandelnde ohnehin kaum auf äussere Reize wie Geräusche reagieren und nur schwer wach zu kriegen sind. «Ich würde das Schlafwandeln am anderen Morgen gegenüber dem Kind auch nicht thematisieren», sagt Stingelin. Sonst gehe der Nachwuchs nicht mehr gerne ins Bett und bekomme womöglich noch Einschlafprobleme. «Kinder müssen zwar wissen, dass sie ab und zu schlafwandeln», so die Somnologin, «aber wir sollten sie nicht ständig daran erinnern.» Eine Herausforderung können jedoch Ferienoder Klassenlager sein, aber auch Übernachtungen bei Freunden. Denn wer schlafwandelt, tut dies regelmässig, meist mehrmals pro Woche, und dies ganz ungeachtet des Ortes, an dem er gerade nächtigt. Weil Stress Schlafwandeln auslösen kann, kommt dies sogar besonders häufig in neuen Situationen vor. Dasselbe gilt übrigens auch für den Nachtschreck, eine weitere Unterart von Parasomnie, die ebenfalls in der ersten Nachhälfte auftreten kann. Eine plötzliche Angst lässt dabei das Kind aus dem Tiefschlaf aufschrecken: Es wacht schreiend oder weinend auf, hat einen erhöhten Puls und oft aufgerissene Augen. Wie beim Schlafwandeln ist es jedoch nicht ansprechbar. Meist dauert die Episode nur wenige Sekunden bis Minuten und endet ebenso abrupt, wie sie begonnen hat – indem der Nachwuchs friedlich weiterschläft und sich am anderen Morgen an nichts mehr erinnert. Auch hier liegen die Ursachen in der noch nicht ausgereiften Hirnentwicklung.
Vererbt, aber nicht gefährlich
«Beide Formen der Parasomnie sind nicht schlimm», fasst Katharina Stingelin zusammen, «aber für Aussenstehende manchmal unangenehm.» Besonders wenn sie nicht vorgewarnt wurden. Umso wichtiger sei es deshalb, dass bei Übernachtungen in Lagern oder bei Freunden, der engste Kreis die Zusammenhänge kenne. Und auch für das schlafwandelnde Kind ist es beruhigend zu wissen: «Anna und Paula, die neben mir schlafen, wissen Bescheid, dass ich nachts manchmal umherlaufe. Und die Lagerleitenden sind ebenfalls informiert.» Theoretisch besteht auch die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit – wie etwa auf Reisen – Medikamente einzunehmen, die das Schlafwandeln unterdrücken. «Aber da würde ich gerade bei Kindern sehr genau abwägen und Medikamente nur als letzten Ausweg wählen», so Stingelin. Sie ergänzt: «Es kommt natürlich immer auf den Leidensdruck an.» Bei Erwachsenen hingegen, die sehr viel seltener schlafwandeln – nur ein bis zwei Prozent sind davon betroffen, während 30 Prozent der Kinder nachts umhergeistern – sei dies etwas anderes. Wer auf Geschäftsreisen fürchten müsse, nachts plötzlich in der Hotellobby oder fremden Zimmern zu landen oder eine Kreuzfahrt plane, könne für diese Zeit mit Medikamenten gegensteuern.
Um die erforderliche Dosis und Wirksamkeit herauszufinden, empfiehlt die Somnologin, die Medikamente vorher zu Hause zu testen. Bei den meisten schlafwandelnden Kindern verwächst sich das nächtliche Umhergeistern irgendwann. Auch der Siebenjährige hörte kurz vor seinem zehnten Geburtstag von einem Tag auf den anderen auf, nachts die Wohnung unsicher zu machen. Bei der Ursachenforschung fürs Schlafwandeln lohnt es sich übrigens, in der eigenen Familie nachzufragen: Vielleicht sind Papa oder Mama ja als Kind auch schon nachts umhergegeistert. Das würde vieles erklären. Denn Schlafwandeln vererbt sich.
