Erziehung
Meine Kinder übernehmen Verantwortung
Von Sarah Pfäffli
Wie lernen Kinder, zu sehen, was im Haushalt ansteht? Coach Sam Kelly rät zum Umdenken: weg von Ämtliplänen, hin zu geteiltem Mental Load.
Sam Kelly, was haben Ihre drei Kinder heute schon im Haushalt erledigt?
Bei uns ist jetzt etwa 11 Uhr vormittags. Bevor sie in die Schule gegangen ist, hat meine zehnjährige Tochter ihr Bett gemacht, einen Teil des Geschirrspülers ausgeräumt, ihr Zimmer aufgeräumt und ihre schmutzige Wäsche weggebracht. Meine beiden anderen Kinder erledigen ihre Aufgaben später am Tag, wenn sie von der Schule zurückkommen.
Wirklich? Oder schieben sie es nur raus?
Das ist einer der Vorteile meines Ansatzes: Wenn Kinder einmal wissen, was zu tun ist, und sich dabei sicher fühlen, können sie selbst entscheiden, wann sie ihre Aufgaben erledigen – Hauptsache, es geschieht bis zum Abend, also bevor sie Bildschirmzeit haben oder Freunde treffen oder zum Sport gehen. Diese Selbstbestimmung ist ein zentraler Teil des Ganzen.
Was hätten Sie denn vor fünf Jahren auf dieselbe Einstiegsfrage geantwortet?
Oh, die Antwort wäre komplett anders ausgefallen! Vor fünf Jahren habe ich praktisch alles für meine Kinder gemacht. Wenn ich sie bat, etwas beizutragen, gab es Augenrollen oder richtige Dramen – selbst bei kleinsten Aufgaben. Es war ein ständiger Machtkampf, und irgendwann hatte ich einfach keine Energie mehr dafür. Ich dachte: «Warum soll ich mich jetzt auch noch darum streiten, dass jemand den Geschirrspüler ausräumt? Ich machs einfach schnell selbst.» Aber inzwischen haben wir unser ganzes Familienverständnis verändert. Es geht nicht nur darum, Aufgaben zu erledigen, sondern das Denken zu verändern – weg von der «One-MomShow» hin zu einem echten Familienteam, das auch die mentale Last teilt.
Was hat den Wandel ausgelöst?
Ich kam an einen Punkt, an dem ich einfach nicht mehr bereit war, alles allein zu tragen – weder körperlich noch mental. Ich habe dann meinem Mann ganz klar gesagt: So geht es nicht weiter. Ich habe angefangen, ihn darin zu unterstützen, selbst zu sehen, was im Haushalt zu tun ist – ohne dass ich ihm Listen schreiben oder ihn daran erinnern musste. Dass wir überhaupt erwachsenen Männern solche Dinge beibringen müssen, ist ein Symptom des grösseren Problems – und ich wünschte wirklich, das wäre nicht so. Aber niemand kam, um mich zu retten. Also haben wir das gemeinsam erarbeitet, über ein ganzes Jahr hinweg.
Und wann kamen die Kinder ins Spiel?
Eines Freitagabends sass ich da und schrieb eine To-do-Liste für meine Kinder für Samstagmorgen, als ich realisierte: Warum bringe ich das meinen Kindern nicht auch bei? Warum sollen sie Listen von mir bekommen, wenn sie lernen können, selbst zu sehen, was ansteht? So entstand mein «Notice and Do»- Ansatz.
Was genau ist der Unterschied zwischen einem klassischen «Ämtliplan» und Ihrem «Notice and Do»-System, also «sehen und erledigen»?
Der grosse Unterschied ist: Meine Kinder übernehmen Verantwortung im Haushalt – sie sehen, was zu tun ist, und handeln eigenständig. Heute Morgen zum Beispiel: Meine Tochter war am Wochenende auf einem Ausflug, ihr Gepäck lag noch im Zimmer. Ohne dass ich etwas sagen musste, hat sie alles ausgepackt und aufgeräumt. Das ist befreiend – für mich und für sie. Denn sie lernt, Verantwortung zu übernehmen, und zwar nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule, im sozialen Umfeld – überall.
Wie kann man anfangen, wenn man gerade erst merkt, dass man alles allein macht?
Ganz wichtig: Es ist ein Prozess. Man kann es sich vorstellen wie das Schuhebinden – das lernen Kinder auch nicht über Nacht. Der erste Schritt ist, ihnen das «Sehen» beizubringen. Gehen Sie gemeinsam durch einen Raum und sagen Sie: «Schau, so sieht ein voller Abfalleimer aus. Wenn er so aussieht, ist es Zeit, ihn zu leeren.» Oder: «So sieht ein schmutziges Lavabo aus.» Und dann: «Hier ist das Putzmittel, so funktioniert das.» Statt mit fixen Aufgaben zu starten, sagen Sie: «Jeder von euch macht heute ein Notice and Do – also eine Sache, die ihr selbst gesehen habt und erledigt habt.»
Es ist also gar nicht selbstverständlich, dass Kinder wissen, wie ein «sauberer Tisch» aussieht, wenn man es ihnen nie erklärt hat...
Genau! Wir gehen oft davon aus, dass Kinder das «sehen», weil wir es sehen – aber sie müssen das erst lernen. Wenn wir ihnen das beibringen, geben wir ihnen ein wichtiges Werkzeug mit – und entlasten uns selbst.
Reicht es nicht, im Haushalt einfach ein gutes Vorbild zu sein?
Gute Frage! Viele denken, Kinder machen nichts, weil sie sich nicht für Ordnung interessieren – aber ehrlich gesagt: Interessieren wir uns wirklich leidenschaftlich für saubere Wäsche oder leere Spülmaschinen? Nein. Wir tun es, weil es notwendig ist. Genauso wie Zähneputzen oder Hosenanziehen. Und nur weil Kinder sehen, dass wir etwas machen, heisst das noch lange nicht, dass sie es selbstständig übernehmen. Sie brauchen Anleitung und klare Erwartungen – nicht aus Zwang, sondern weil es sie stärkt und auf das Leben vorbereitet.
Was mache ich, wenn sie sich trotzdem widersetzen?
Widerstand ist normal – genau wie beim Schuhebinden. Kinder brauchen Zeit, um Neues zu lernen. Und: Wir dürfen unsere eigene Erschöpfung und Wut, die wir angesichts der einseitigen Verteilung von Hausarbeit und Mental Load über Jahre aufgebaut haben, nicht auf unsere Kinder projizieren. Die Ungerechtigkeit im System ist eine Tatsache – aber sie ist nicht die Schuld unserer Kinder. Ich sage mir dann: Ich bin wütend, und das ist okay – aber ich nutze diese Energie, um Dinge zu verändern, nicht um Schuld zuzuweisen. Und wenn es schwerfällt, mache ich mit. Ich stelle einen Timer, wir machen Musik an – und ich arbeite mit meinen Kindern gemeinsam. Wie ein Team.
Oft habe ich einfach Zeit und Energie und denke: «Ich machs gern selbst!»
Das fühlt sich im Moment vielleicht einfacher an, aber langfristig zahlen wir alle einen Preis dafür – in Form von Überlastung, Erschöpfung, Frust. Und unsere Kinder lernen dabei nichts. Wenn wir wirklich möchten, dass sich etwas verändert – für uns und für sie –, dann lohnt es sich, diesen kleinen Umweg zu machen. Denn das Ziel ist ein ganz anderes Leben, ein anderes Miteinander.
Meine beiden Kinder wetteifern oft miteinander – es kommt ständig: «Ich hab das gestern gemacht!» oder «Das ist nicht von mir!» Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
Solche Reaktionen sind ganz normal – und es ist ein Lernmoment. Ich erinnere sie dann daran: «Wir machen hier keine Aufgaben mehr nach dem Prinzip ‹Wer wars?›, sondern jeder übernimmt täglich einen eigenen kleinen Beitrag – unabhängig davon, wer was verursacht hat.» Es geht um Verantwortung, nicht um Schuld.
Sie sprechen neben dem Prinzip des «Notice and Do» auch von den «Big Three». Was sind diese «grossen Drei»?
Die «Big Three» sind drei tägliche Aufgaben, für die das Kind Verantwortung übernimmt. Das können bei jedem Haushalt andere Dinge sein – wichtig ist nur, dass sie altersgerecht und gut machbar sind. Bei meinen Kindern sind es: das Bett machen, einen Teil des Geschirrspülers ausräumen und die eigene Wäsche managen. Anfangs heisst das vielleicht nur: schmutzige Kleidung in den Wäschekorb legen oder lernen, ob etwas überhaupt gewaschen werden muss. Es geht nicht darum, dass sie sofort die ganze Waschmaschine bedienen – sondern dass sie Stück für Stück lernen, Verantwortung zu übernehmen.
Warum legen Sie so grossen Wert auf die Wahrnehmung der Arbeit?
Es reicht nicht, nur zu wissen, wie man etwas macht – der wichtigste erste Schritt ist, überhaupt zu bemerken, dass es gemacht werden muss. Und genau da liegt der Mental Load, der oft auf Müttern lastet. Wenn wir unseren Kindern beibringen, diesen Schritt selbst zu übernehmen, entlastet uns das enorm – und befähigt sie langfristig, Verantwortung zu tragen.
Ist es irgendwann zu spät, damit anzufangen?
Es ist nie zu spät. Ganz oft fragen mich auch Eltern mit erwachsenen Kindern, die noch zu Hause wohnen: «Geht das noch?» Und ich sage: Ja! Sie sind die Eltern. Sie leben zusammen, Sie führen den Haushalt – und Sie dürfen neue Erwartungen aufstellen. Wichtig ist: Erklären Sie die neue Haltung und helfen Sie bei der Umsetzung. Es ist nie zu spät für einen Perspektivenwechsel.
Sam Kelly, Coach
Und wie ist es mit neurodivergenten oder sehr willensstarken Kindern?
Absolut möglich! Wir sind selbst eine neurodivergente Familie. Wichtig ist hier, sich bewusst zu machen, dass bei Kindern mit ADHS oder anderen Besonderheiten die exekutiven Funktionen oft um drei bis vier Jahre verzögert sind – also etwa beim Planen, Strukturieren oder auch bei der Emotionsregulation. Wenn Sie also ein zehnjähriges Kind haben, orientieren Sie sich bei den Aufgaben an einem Entwicklungsstand von sechs oder sieben Jahren. Brechen Sie Aufgaben in kleine Schritte herunter. Zeigen Sie gemeinsam, wie man das Bett macht – Ecke für Ecke. Verwenden Sie visuelle Hilfen, Timer, Routinen. Und: Sehen Sie vermeintliche «Widerstände» nicht als Trotz, sondern als Überforderung. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die zu ihrem Gehirn passen – nicht umgekehrt.
Unsere Kinder wachsen ohnehin in einer leistungsorientierten Gesellschaft auf. Sollen sie nicht einfach spielen dürfen?
Ich denke, es ist kein Widerspruch. Kinder können spielen und Verantwortung übernehmen. Beides stärkt sie. Studien zeigen, dass Kinder, die regelmässig altersgerechte Aufgaben im Haushalt übernehmen, später resilienter, selbstbewusster und erfolgreicher sind. Und in meinem Modell nimmt der tägliche Beitrag der Kinder an den Haushalt vielleicht 20 Minuten in Anspruch. Das ist überschaubar – und gibt ihnen unglaublich viel: Eigenverantwortung, Struktur, Selbstwirksamkeit. Das ist ein Geschenk, kein Stress.
Ihr Ansatz ist letztlich auch Bildungsarbeit. Wie schaffen es Frauen, dass auch dieser Teil der Erziehung nicht wieder nur an ihnen hängen bleibt?
Ganz wichtig ist: Sie müssen das nicht allein machen. Sie unterrichten nicht Ihren Mann über die Kinder – das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse. Kinder zu begleiten, ist eine Sache, einen erwachsenen Partner in die Gleichberechtigung zu holen, eine andere. Und ja, auch das ist ein Prozess. Bei uns war es so, dass wir sehr viele Gespräche führen mussten. Denn wir beide – mein Mann und ich – sind mit denselben gesellschaftlichen Bildern aufgewachsen. Das Bild, dass Frauen eben «natürlich» zuständig sind, sitzt tief. Ich habe also versucht, das Thema nicht als Konfrontation zwischen uns zu sehen, sondern als gemeinsame Front gegen ein ungerechtes System. •
