Schicksal
Kinderdemenz: Leben mit dem Tod
Von Redaktion: Anita Zulauf / Fotos: Elisabeth Real
Sie sind erst zehn, die Zwillinge Mattia und Elias Roth, und doch geht ihr Lebensweg bereits dem Ende zu. Die Buben leiden an einem Gendefekt. Die Eltern erzählen vom Leben mit ihren Kindern und der unaufhaltsamen Reise in den Tod.
3500 Familien in der Schweiz leben mit einem unheilbar kranken Kind. Die Stiftung Kinderhospiz Schweiz, auch Kinder-Palliativ-Zentrum KPZ genannt, will eine familienfreundliche Einrichtung errichten, in der betroffene Familien für mehrere Wochen pro Jahr eine Auszeit nehmen können. Die Stiftung sucht nach einem Standort für das Zentrum. Bereits angeboten werden eine Woche Familienferien in Davos.
Mehr zu diesem Thema: www.kinderhospiz-schweiz.ch
Tägerwilen (TG) am Bodensee, ein Samstagnachmittag im September: Es ist ein warmer, sonniger Herbsttag. Rund um das Einfamilienhaus der Familie Roth dröhnen Rasenmäher durchs Quartier. In den Gärten wachsen Stangenbohnen gegen den Himmel, riesige Kürbisse leuchten in sattem Orange. Bernhard und Nicole Roth räumen ihren faltbaren Pool zusammen.
Die Roths sind keine alltägliche Familie. Das Ehepaar hat innerhalb von zweieinhalb Jahren zweimal Zwillinge bekommen. Sarah und Leona werden bald 13 Jahre alt, Mattia und Elias sind 10. Doch statt wie andere Jungs in ihrem Alter wild rumzutoben, sitzen die beiden beinahe reglos in überdimensionierten Buggys. Nur die Arme und Beine zucken unregelmässig, Spastiken und Myoklonien lösen Muskelkrämpfe und Muskelzuckungen aus.
Mattia und Elias Roth leiden an einem Gendefekt. NCL 2, eine sogenannte neurodegenerative Erkrankung (siehe Box), auch Kinderdemenz genannt. Ihre Nervenzellen sterben allmählich ab. Stück für Stück verlieren die beiden Kinder alle Fähigkeiten. Und letztendlich auch das Leben.
Doch an diesem Samstagnachmittag sehen die Buben herrlich zufrieden aus, während ihre Schwestern auf der Schaukel um sie rumturnen. Auch wenn sie hier mal einen Schubser, da mal einen Knuff abbekommen, das macht alles nichts. Elias und Mattia scheinen das Gewusel voll und ganz zu geniessen.
Nicole Roth (46): «Heute haben sie einen guten Tag. Die anderen Tage sind häufiger. An denen sind wir beschäftigt mit Schleim absaugen, streicheln, Sauerstoff zuführen, massieren, um die Spastiken zu lösen, die Schmerzen etwas zu lindern. Das Leben so gut es geht erleichtern, sie unsere Liebe spüren lassen, viel mehr geht nicht. Eine Heilung ist nicht möglich.»
Stolze Familie
Die doppelten Zwillinge, sie sind eine Laune der Natur, entstanden ohne Hormontherapie oder künstliche Befruchtung. Die Mädchen kommen zwei Wochen zu früh zur Welt. Die Jungs am errechneten Termin, dem 18. Juli 2006. Elias wiegt 3,5 Kilogramm, sein Bruder 2,5. Die Geburten beider Zwillingspaare verlaufen spontan.
Die Lokalzeitung berichtet über den multiplen Kindersegen der Familie, auf dem Foto sieht man stolze Eltern mit den Babys und den Mädchen. Keiner ahnte damals, dass zweieinhalb Jahre später die Welt aus den Fugen geraten würde.
Der Feine und der Buddha
Die Kinder entwickeln sich gut. Mattia ist ein feiner Junge, «unser drittes Mädchen». Er lässt sich von seinen Schwestern die Fingernägel lackieren, ist aber auch der Wirbelwind der Familie, bringt Action und Fröhlichkeit in die Bude, macht jeden Unfug mit. Elias, «unser Professor» oder «Buddha», wie ihn der Grossvater liebevoll nennt, ist der Ruhige, der Denker und Beobachter. Er ist weniger der Bewegungstyp, liebt Puzzlespiele und lernt schon früh gut sprechen. Die Buben gehen in die Waldspielgruppe. Nichts ist anders, nichts fällt auf.
Doch dann kommt der Tag, an dem Mattia seinen ersten epileptischen Anfall hat. Auf dem Spielplatz beim Schulhaus, im April 2009. Elias’ erster Anfall kommt vier Monate später.
Bernhard Roth (48): «Die Buben wurden über Monate mit Medikamenten gegen Epilepsie behandelt. Gleichzeitig verloren sie immer mehr motorische Kompetenzen. Plötzlich konnte Mattia seine Banane nicht mehr halten. Oder Elias konnte nicht mehr aufstehen. Auf einmal war das Drücken des Knopfs am CD-Player nicht mehr möglich. Die Kinder waren verwirrt, traurig. Und wir waren zutiefst erschrocken über diese Veränderungen. Doch der Neurologe wollte die negativen Entwicklungen nicht sehen. Wir vermuteten, dass die Medikamente Nebenwirkungen haben könnten und bauten sie ab. Doch die Rückschritte hörten nicht auf. Da ahnten wir, dass es etwas anderes sein muss.»
Mehr als zwei Jahre vergehen mit wochenlangen Aufenthalten in der Epilepsieklinik in Zürich, für die Medikamenteneinstellungen und Untersuchungen. In dieser Zeit werden Elias und Mattia von gehenden zu kriechenden Kindern. Eine Ärztin in der Epilepsieklinik hat Erfahrungen mit NCL. Sie schlägt einen entsprechenden Gentest mit Trockenblut in einem Labor in Deutschland vor. Der ergibt die traurige Gewissheit. Weitere Untersuchungen sind unnötig. NCL endet in jedem Fall mit dem Tod. Die Diagnose reisst tiefe Wunden. Nicole Roth verfällt in Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Bernhard Roth hadert mit dem Schicksal. Doch die Reise geht unaufhaltsam weiter. Atempausen gibt es nicht.
Hinter der Bezeichnung NCL verbirgt sich eine ganze Reihe von seltenen Demenzerkrankungen im Kindesalter. Bekannt sind derzeit 14 verschiedene Formen. NCL2, auch spätinfantile NCL genannt, bricht im Alter von 2 bis 3 Jahren aus. Ein fehlendes Enzym führt zu geistigem und körperlichem Abbau, Erblindung und epileptischen Anfällen. NCL wird autosomal-rezessiv vererbt. Das heisst, beide Eltern sind Träger eines gesunden und eines kranken Gens. Vererben sie nun beide das kranke Gen an ihr Kind (das Risiko liegt hier bei ca. 25 Prozent), erkrankt das Kind an NCL. Weltweit leiden rund 70 000 Kinder und junge Menschen an dieser Krankheit mit tödlichem Ausgang. In diesem Jahr wurde eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (D) publiziert, die den Verlauf von NCL2 mit einer Enzymersatztherapie erstmals erfolgreich bremsen konnte. Für Mattia und Elias Roth (s. Haupttext) kommen diese Erkenntnisse aber zu spät. Ihre Krankheit ist bereits zu weit fortgeschritten. Zudem hätten ihre Eltern ihnen «keine leidensverlängernden Massnahmen zumuten» wollen, wie sie im Gespräch erklärten.
Es wird still
Nicole Roth: «Der geistige und körperliche Abbau ging rasch voran. Die Bewegungsfähigkeit, die Sprache, das Lachen, alles verschwindet im Nirgendwo. Mama und Papa waren ihre ersten Worte gewesen, als sie klein waren. Und zusammen mit den Namen ihrer Schwestern waren es auch die letzten. Elias wurde ängstlich. Wenn er etwas nicht mehr konnte, versuchte er es erst gar nicht mehr. Er hat sein Schicksal angenommen. Ruhe ist über ihn gekommen. Und diese Ruhe strahlt er auch heute noch aus. Unser Buddha. Darum geht es ihm auch ein bisschen besser als Mattia. Mattia wollte mit aller Kraft das Unaufhaltsame verhindern. Er gab nicht auf, kämpfte, wollte sich weiter bewegen, robbte durch die Wohnung. Als er sich nicht mehr verbal mitteilen konnte, als er sich nicht mehr gezielt bewegen konnte, begann er zu schreien. Monatelang schrie er seinen Frust heraus. Jeden Tag. Das war eine schwere Zeit. Man entwickelt eine Wut, auf die Krankheit, das Leben, das Kind, das ja nichts dafür kann. Ein Jahr später wurde auch er stiller.»
Bernhard Roth: «Alles wird stiller. Auch das Schöne. Bis vor einem halben Jahr konnten sie noch lächeln, wenn ihre Schwestern Faxen machten. Und sie konnten noch richtig weinen und laut lachen, auch wenn der Anlass für uns nicht immer offensichtlich war. Alles ist verschwunden. Im Juni vor zwei Jahren wurden sie blind. Was sie heute noch mitbekommen? Man weiss es nicht genau. Elias hat ein gutes Gehör. Wenn er seinen Namen hört, wendet er den Blick in diese Richtung. Mattia nicht. Schatten und Licht können sie wohl noch erkennen. Und wenn sie sich wohlfühlen, merkt man das an der Körperhaltung. Wie etwa jetzt, bei der Schaukel, mit Sarah und Leona, man sieht, dass es ihnen gefällt.»
Seit fünf Jahren werden die beiden Buben im Ekkharthof in Lengwil betreut, einer anthroposophischen Heil- und Bildungsstätte. Anfangs nur an einzelnen Tagen, dann wochenweise. Ein Betreuungsteam ist auf Elias und Mattia ausgerichtet. Die Betreuer kümmern sich liebevoll um die Kinder. Und auch wenn die Buben das nicht mehr mitbekommen, ermögliche das Team immer wieder kleine Freuden. Zum Beispiel wenn sie Wienerli pürieren, weil sie wissen, dass Elias gerne Wienerli ass. Auch Chicken Nuggets und Pommes hätten sie schon im Mc Donald’s besorgt und püriert. Das Heim sei das zweite Zuhause der Kinder. Dort gehen sie auch zur Schule, weil sie nach wie vor schulpflichtig sind. Die Schule tue den Buben gut, sagen die Roths. Lieder hören, die Sinne stimulieren, mit Kindern zusammen sein. In den Ferien und jedes zweite Wochenende kommen sie heim. Dann helfen alle mit, Leona und Sarah, die Eltern von Nicole Roth, Bekannte und die Schwestern von Bernhard Roth. So gut es eben geht.
Nicole Roth: «Natürlich hat man ein schlechtes Gewissen. Weil wir die Buben weggeben, obwohl sie nicht lange leben. Weil wir zu wenig Zeit für die Mädchen haben. Weil wir überhaupt keine Zeit für unsere Beziehung haben. Weil wir Kinder in die Welt geholt und ihnen ohne unser Wissen defekte Gene vererbt haben. Ja, so drehen die Gedanken im Kreis. Doch seit dem Ausbruch der Krankheit haben wir keine Wahl mehr. Denn wir können die Aufgaben keinesfalls mehr alleine bewältigen. Mattia und Elias müssen rund um die Uhr betreut und gepflegt werden.»
Essenszeit: Die Familie sitzt am langen Holztisch. Mattia und Elias bekommen Joghurt. In dieser alltäglichen Szenerie steckt viel Liebe. Es wird gelacht und gescherzt, und immer ist da einer, der eine Hand der Buben hält, streichelt, ihnen durchs Haar wuschelt, die Schwestern drücken den Brüdern einen Kuss auf die Backe oder flüstern ihnen Worte ins Ohr. Sarah und Leona sagen, sie hätten beide je eine identische Gesichtshälfte von Mattia. Sarah die linke, Leona die rechte. Und sie sagen, sie hätten die besten Brüder.
«Unser Leben ist, wie es ist»
Leona Roth: «Ich habe sie sehr gerne. Es wäre schon cool, wenn sie gesunde Brüder wären. Auch wenn wir dann manchmal ‹drunter› kämen. Manchmal nervt mich, dass wir immer zu Hause sein müssen, wenn Elias und Mattia hier sind. Die anderen gehen in die Badi, und wir müssen helfen. Aber meist mache ich es auch freiwillig.»
Sarah Roth: «Mich nerven am meisten die Leute, die sogar stehen bleiben, um zu glotzen. Bei Kindern verstehe ich das ja, aber bei Erwachsenen überhaupt nicht. Das ist so krass. Unser Leben ist für andere Leute vielleicht nicht ganz normal. Für uns aber schon. Es ist halt wie es ist. Und ich habe meine Brüder total lieb.»
Plötzlich sei man nicht mehr Mensch, sondern «die mit den kranken Kindern». Man werde angestarrt, unangenehm in den Mittelpunkt gezerrt. Darum haben sich die Roths teilweise aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Geblieben sind noch einige wenige Freunde und Bekannte. Nicole Roth hatte in der Zeit des Haderns Mühe mit der Vorstellung, jemals wieder als Kindergärtnerin tätig zu sein. Heute arbeitet sie wieder 20 Prozent. Bernhard Roth ist Leiter Administration in der Kantonsschule Frauenfeld, mit einem Pensum von 80 Prozent.
Was kommt danach?
Bernhard Roth: «Die Krankheit der Kinder hat vielschichtige Einflüsse auf das eigene Leben. Ich habe Teile meiner Fröhlichkeit und Unbeschwertheit eingebüsst. Ich hatte sehr grosse Mühe, die Buben mehr und mehr abzugeben. Ich konnte nur schlecht loslassen. Natürlich hat auch unsere Paarbeziehung gelitten. Das Problem ist, dass man im Bewältigungsprozess immer woanders steht als der andere. Mal gehts mir besser, dann will Nicole mich nicht mit deprimierenden Gesprächen runterziehen, und umgekehrt. So reden wir wenig über unsere Gefühle und Empfindungen auf diesem Weg. Wir funktionieren einfach. Das Positive ist, wir können uns voll und ganz auf einander verlassen.»
Nicole Roth: «Man baut eine Fassade auf, eine gewisse Beherrschtheit, Distanz zu Emotionen. Das ist Selbsterhaltungstrieb. Der Rest passiert, wenn man alleine ist. Ich schaue nie Fotos von früher an, sonst weine ich drei Tage lang. Es ist schwierig, über die Zukunft zu sprechen. Denn alles, was man sich vorstellen könnte einmal zu tun, zwei Wochen Sommerferien an einem Strand, Auszeiten für uns als Paar, solche Dinge sind erst möglich, wenn es die Jungs nicht mehr gibt. Zukunft, das ist nach dem Tod. Darum denke ich nicht darüber nach.»
Zwei Jahre, vielleicht drei? Das ist in etwa noch die Lebenserwartung von Mattia und Elias.
Bernhard Roth: «Ich verdränge das. Wir haben uns damit auseinandergesetzt und eine Patientenverfügung für die Buben machen lassen. Sollte ein Notfall eintreffen, zum Beispiel eine Lungenentzündung, würde man nicht mehr alles Mögliche tun, sondern das, was sinnvoll ist. Man würde sie palliativ begleiten. Das finde ich sinnvoll. Ich habe aber jetzt schon grossen Respekt davor, was kommen wird. Und was ist danach? Ich habe keine Vorstellung.»
Nicole Roth: «Der Tod unserer Buben ist unser täglicher Begleiter. Es ist unsere Realität, es kommt unaufhaltsam auf uns zu. Jetzt geht es ihnen noch relativ gut. Doch wenn sich ihr Zustand verschlechtert, soll ihr Leiden nicht unnötig verlängert werden. Wessen Wille wäre das? Der unsere? Weil wir nicht loslassen wollen? Oder der ihre? Ich glaube nicht. Wenn es soweit ist, ist es zwar unendlich traurig. Aber es ist dann auch mal gut. Für sie und für uns.»
Zum Schluss sagt das Ehepaar Roth, dass jetzt, beim Gespräch, viel Schönes zu kurz gekommen sei. Sie erzählen von den vielen schönen, intensiven Momenten mit verständnisvollen Menschen, denen die Familie dank Elias’ und Mattias Weg begegneten. Davon, dass die Buben ihnen so nahe seien, wie es sonst nur Kleinkinder sind. Dass sie unglaublich viel von ihnen gelernt hätten: das Lächeln und die Zufriedenheit, den enormen Lebenswillen und die Lebenskraft, trotz allem. Von Mattia die Zähigkeit, er, der sich dem Schicksal in den Weg stellen wollte. Und von Elias, seine Ruhe und Besonnenheit, und seine Stärke, anzunehmen, was man nicht mehr ändern kann.