Gebärdensprache
Gehörloses Kind: Nun lernt seine Familie Gebärden
Wie lernt ein Kind, das nichts hört, sprechen? Es erlernt die Gebärdensprache! Zu Besuch bei Familie Wigger mit der Gebärdensprachlehrerin Nadia Tschudin.
Zoe (3) klammert sich an das Hosenbein ihrer Mutter Salome (39) und guckt skeptisch auf den Besuch. Kaum aber sieht sie Nadia Tschudin (43), beginnt ihr blondes Haarschwänzchen zu hüpfen.
Die beiden verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie hören fast nichts.
Nadia fährt jede Woche nach Hergiswil (NW), um Zoe und Salome Wigger zwei Stunden in Gebärdensprache zu schulen. Heute sind ihre Brüder Ron (7) und Yvo (4) ferienhalber mit dabei. Strenge Schulatmosphäre herrscht hier allerdings nicht. Und schon gar keine Stille: Die Kinder wuseln durch die Stube, brummen mit den Lastwagen übers Parkett oder kippen die Box mit den Wildtieren kurzerhand auf den Boden. Es wird geplappert, gelacht, gescherzt– und gebärdet.
Nadia bringt sich ein in den Trubel, nimmt die Ideen und Spielsituationen der Kinder auf und kommentiert diese immer wieder mit Gebärdenzeichen. Heute sind es vornehmlich Tiere: Das Andeuten eines langen Halses steht für «Giraffe», das Streichen der Hand über die Verlängerung des Kinns hinaus heisst «Geiss», wackelnde Hände auf dem Kopf bedeutet «Hase», die Verlängerung der Nase steht für «Elefant». Wenn Zoe mag, imitiert sie die Gebärde, wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Wie jedes Kind, das Sprechen lernt, schnappt Zoe jene Worte auf, auf die sie gerade Lust hat.
Umso eifriger versuchen Salome und die Buben die gestikulierten Zeichen nachzuahmen: Denn Nadia ist auch für sie da. Je umfassender alle in der Familie die Gebärden beherrschen, desto besser. Salome gibt ein paar der gelernten Zeichen ihrem Mann weiter, der heute seiner Arbeit als Hauswart nachgeht. Die besondere Sprache schweisst die Familie zusammen.
Die einzige Störlehrerin der Schweiz
Für Nadia sind Hausbesuche wie bei Wiggers Berufsalltag. Wie andere als Störköch* innen von Haushalt zu Haushalt ziehen, besucht sie – als einzige «Störlehrerin» in der Innerschweiz – Familien und stellt «Lern-Menus» zusammen: Ob gehörlose Eltern mit hörenden Kids, hörbeeinträchtigte oder gehörlose Kinder und ihre hörenden Eltern Alte und Junge – sie alle lassen sich anstecken von Nadias Herzblut für ihre Sprache.
Laut Schweizerischem Gehörlosenbund (SGB) sind bis zu 600 000 Personen in der Schweiz leicht bis hochgradig schwerhörig. Von diesen nutzen 10000 stark höreingeschränkte Menschen eine der drei schweizerischen Gebärdensprachen als Erstsprache.
Stille im Mutterleib
Was Gehörlosigkeit bedeutet, erklärte Nadia Tschudin eindrücklich noch vor dem Besuch bei Familie Wigger. Hörende Menschen entwickeln den Hörsinn schon im Bauch der Mutter, sie wachsen also bereits mit einer Ahnung von Klängen, Melodien, Geräuschkulissen und Lärm heran. Für Gehörlose hingegen bleibt es im Mutterleib still – allenfalls entwickeln sie ein stärkeres Gespür für Vibrationen.
Auch in den ersten Lebensjahren verarbeitet das Gehirn bei Hörenden eine Vielzahl an akustischen Eindrücken: Klappern, Klopfen, Seufzen, Lachen, Schreien – und tausendfach: gesprochene Worte. Das Hirn von Nicht-Hörenden bleibt diesbezüglich arbeitslos. Wird das zuständige Hirnzentrum bei einem Kind wie Zoe später plötzlich über ein Cochlea-Implantat (siehe Box) und ein Hörgerät stimuliert, herrscht im Hirn zunächst Ratlosigkeit.
Je früher desto besser
Ein bisschen so, wie wenn wir Hörenden in einer Gruppe von Indigenen sitzen – und absolut nichts verstehen. Die Akustik hört sich mit einem neuen Hörgerät befremdend an. Weil Nicht-Hörende auch die eigene Stimme nicht hören, müssen sie die Artikulation von Worten allein durch das Kopieren von Lippen-, Mund- und Zungenstellung lernen. Daran gekoppelt: Das anspruchsvolle Erlernen, wie Stimmbänder korrekt in Schwingung gebracht werden. Eine Herkulesleistung!
Auch deswegen fordern Gehörlose ein möglichst frühes Erlernen der Gebärdensprache.
Die Ursache von Zoes Schwerhörigkeit ist eine seltene Infektion. Bei Salome Wigger wurde in den ersten Monaten der Schwangerschaft ein Zytomegalie-Virus (CMV) aktiv. Fast jeder Erwachsene trägt die eine oder andere Form von Herpes in sich, das aber selten ausbricht. Das Medikament, das Salome noch während der Schwangerschaft einnahm, verhinderte vermutlich Schlimmeres – das Virus hätte auch schwere Hirnschädigungen verursachen können.
Bezüglich Gehör gingen Zoes Eltern nach der Geburt zunächst vom Besten aus: Bei den ersten Hörtests vermuteten die Fachpersonen Flüssigkeit im Ohr. Oder defekte Messinstrumente. Deshalb machten sich Salome und ihr Mann keine grossen Gedanken: «Mit unseren zwei wilden Jungs waren wir ganz froh um unser ruhiges Mädchen», erzählt Salome bei einem Gespräch am Gartentisch.
Dank Implantat nimmt sie Reize wahr
Doch lange hätten sie die Augen nicht verschliessen können: Mit 9 Monaten wurde Zoes Gehör in einem Schlaftest einer sogenannten Hirnstammaudiometrie untersucht. Das Ergebnis war ein Schock. Auf dem rechten Ohr war Zoe taub und links lag eine hochgradige Schwerhörigkeit vor. «Sie reagierte nur bei einem lauten Knall.» Dank Cochlea-Implantat, das bei ihr im Alter von 14 Monaten implantiert wurde, nimmt Zoe Sprache und Geräusche als Reize wahr. Die elektrischen Impulse stimulieren den Hörnerv, und das Gehirn interpretiert dies als akustisches Geschehen. «Sie hört anders als wir, wohl eher wie eine monotone, metallene Computerstimme», erklärt Salome. Das links getragene Hörgerät reichert den Klang mit etwas Farbe an.
Autofahren ist möglich
Trotzdem wird Zoe für immer in einer stillen Welt leben, solange sie die Hörhilfen ablegt. Aber nicht in einer dunklen und farblosen. Denn bei Gehörlosen übernehmen das Riechen, Fühlen und Sehen eine umso wichtigere Funktion. «Oft werden wir Gehörbeeinträchtigte gefragt, ob wir Autofahren dürfen», sagt Nadia und erläutert gleich selber: «Klar dürfen wir Autofahren! Mit unseren geschulten Augen nehmen wir etwa die Blinklichter der Polizei oder Ambulanz sogar oft früher wahr als Hörende. Auch Unruhen im Verkehrsverlauf sind für uns ein Warnsignal, auf das wir schneller und aufmerksamer reagieren.»
Nadia hat sich mittlerweile zu Zoe auf den Boden gekniet und öffnet das grosse, kartonierte Bilderbuch. Um die Hauptbilder reihen sich Motive mit Gebärdensprachezeichen. Nadia tippt auf einen Gegenstand oder ein Tier und zeigt die zugehörige Gebärde vor. Zoe imitiert. So saugt sie die Gebärdensprache Wort für Wort auf, verinnerlicht die Sprache wie andere Kinder eine andere Zweitsprache.
Nadia Tschudin wäre froh gewesen, hätte man ihre Schwerhörigkeit damals früher erkannt. Erst als sie drei Jahre alt war, realisierten Eltern und Ärzte, dass sie nichts hört. Nadia wuchs in den 1980er-Jahren in einer Zeit auf, in der die Gebärdensprache noch stiefmütterlich behandelt wurde. Das als seltsame angesehene Gestikulieren mit den Händen war für eine kleine Gruppe Sonderlinge bestimmt – aber nicht für ein Kind wie Nadia, dachte man damals. So war Nadia in der Schule auf Lehrer* innen angewiesen, bei denen sie von den Lippen ablesen konnte. Doch auf dem Pausenhof entging ihr alles, was hinter ihrem Rücken getuschelt oder geschrien wurde. Trotz Sprachheilschule kam Nadia mit dem Lernstoff bald nicht mehr mit. Und verbrachte deshalb die Jahre von 8 bis 12 in einem Internat für Schwerhörige. «Ich hatte Heimweh und vermisste mein Zuhause, genauso wie meine Eltern mich vermisst haben.» Mindestens, so sagt sie heute, lebte sie unter ihresgleichen.
Die Beratung für Schwerhörige und Gehörlose (BFSUG) ist der Zusammenschluss aller Deutschschweizer Beratungsstellen. ➺ bfsug.ch
Auf der Plattform des Schweizerischen Gehörlosenbunds (SBG-FSS) findet man ein Lexikon mit Bewegtbildern für die Gebärdensprache ➺ signsuisse.sgb-fss.ch/ und ein Lernprogramm für die Gebärdensprache auf ➺ gebaerdenlernen.ch.
Die Schweizerische Vereinigung der Eltern hörgeschädigter Kinder (SVEHK) engagiert sich für hörbehinderte Kinder. ➺ svehk.ch
Ein Cochlea-Implantat (CI)-System besteht aus zwei Hauptkomponenten: dem Audioprozessor und dem Implantat. Der Audioprozessor wird extern getragen. Er nimmt die Schallinformationen auf und sendet sie an das Implantat. Dieses sitzt hinter dem Ohr unter der Haut und verarbeitet die Informationen weiter. Ein Cochlea-Implantat sendet die Schallinformationen in Form von elektrischen Impulsen an den Hörnerv bzw. das Gehirn, wo sie als Klänge wahrgenommen werden.
Als Gehörlose ausgeschlossen
Denn in der Pubertät, zurück in der Volksschule, bildeten sich Peergroups und Nadia realisierte, dass sie nirgendwo dazu gehörte. «Es fühlte sich an wie ein Eimer kaltes Wasser über dem Kopf», beschreibt sie ihre Gefühle. Von da an wusste sie: Sie musste für sich und andere Gehörlose kämpfen. Sie schloss die Schule ab, lernte Topfpflanzen- und Schnittblumengärtnerin, bildete sich weiter und ist heute studierte Sozialpädagogin. «Zuerst kümmerte ich mich um Pflanzen, jetzt um Menschen!», lacht sie. Obwohl sie die Gebärdensprache erst als Erwachsene lernte, spricht sie diese heute perfekt.
Gibt es eigentlich so etwas wie eine politisch korrekte Bezeichnung für nicht hörende Menschen? Gehörlose. Wobei der Ausdruck eigentlich bedeutet, dass jemand rein gar nichts hört. Jene Menschen mit Hörrest nennen sich selbst Schwerhörige. Oder Hörbeeinträchtigte. Oder Hörgeräteträger* innen. Niemals aber: Taubstumme.
Dieser Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert – und verletzt. Denn Gehörlose oder Hörbeeinträchtigte sind nicht stumm. Ihre Stimmbänder sind intakt und sie können sich sehr wohl lautsprachlich ausdrücken. Sie sprechen vielleicht etwas anders, meist aber gut verständlich. «Ich wurde schon gefragt, ob ich eine Zahnspange trage», erzählt Nadia.
Egal mit wem sie spricht, Nadia wendet sich dem Gegenüber immer zu und schaut ihm in die Augen. Denn Gehörlose hören mit den Augen. Umso besser, wenn auch Hörende frontal und deutlich mit den Lippen artikulieren. Aber trotz der Fähigkeit, Lippen zu lesen, verstehen Gehörlose damit nur 30 bis 60 Prozent des Gesagten. Den Rest erschliessen sie aus dem Zusammenhang. Überflüssig zu erwähnen, welch schwierige Zeiten für Gehörlose während der Corona-Maskenpflicht herrschten.
Was die Zukunft bringt?
Auch Zoe ist alles andere als stumm. Sie ruft ihre Brüder – mit ganz leicht verwischtem Klang – beim Namen oder wehrt sich lautstark, wenn sie genug hat vom Memory-Spiel. Ihre Mutter Salome ist froh, dass ihre Kleine von den beiden Jungs schon früh kräftig «beschallt» wurde, wie sie es nennt. «Dadurch können wir für Zoe das Beste herausholen». Ob Zoe dereinst die öffentliche Schule besuchen kann, wird sich zeigen. «Ein bisschen Angst davor habe ich manchmal schon», sagt Salome, «ich hoffe, sie wird nicht gehänselt wegen ihrer nicht perfekten Lautsprache.»
Ein Kind mit einer Einschränkung aufzuziehen, kostet eine Extraportion Kraft. Deshalb sind Salome Wigger Kinder auf dem Spielplatz lieber, die «fadegrad» heraus fragen, was Zoe für ein komisches Gerät über dem Ohr trage. Das sei Zoes Kopfschmuck und helfe ihr, etwas zu hören, sagt sie dann jeweils.
Flüstern hingegen Erwachsene hinter Salomes Rücken, trifft sie das mehr. Da entscheidet sie je nach Tagesverfassung, ob sie sich umdreht und selbstbewusst über Zoes Beeinträchtigung aufklärt, oder ob ihr dazu gerade der Nerv fehlt. Um sich auszutauschen, unterhält Salome einen Chat mit fünf anderen Familien, alle mit einem Kind mit Höreinschränkung. Da kann sie den kleinen Ärger loswerden oder bei technischen Problemen mit dem Cochlea-Implantat um Hilfe bitten.
Akzeptanz ist gefordert
Mittlerweile haben Nadia und Zoe das Bilderbuch fertig angeschaut und sogar einen Zoo samt Gehege auf dem Boden aufgebaut. Besonders gut gefällt Zoe der Pfau. Nadia fächert dazu die rechte Hand auf – eine einleuchtende und schöne Gebärde.
Zoe allerdings hat jetzt genug vom Lernen und fotografiert werden, sie will lieber mit ihrer Freundin in der Nachbarschaft spielen gehen.
Vor dem Abschied aber noch eine letzte Frage an «Störlehrerin» Nadia: Was wäre ihr grösster Wunsch an die Gesellschaft? Dass diese aufhört, sie und andere Hörbeeinträchtigte auf die Behinderung zu reduzieren und als Person mit mentalen Defiziten abzustempeln. «Wir wollen als vollwertige Mitglieder wahrgenommen und akzeptiert werden!»