
Elisabeth Real
ADHS
«Manchmal ist bei uns Feuer unter dem Dach»
Von Yvonne Kiefer-Glomme
Beide Söhne der Familie Steiner*, Jerome, 10, und Ari,8, haben ADHS. Eine herausfordernde Situation für ihre Eltern, die versuchen, im turbulenten Familienalltag die Kinder zu unterstützen und mit der Schule im Austausch zu bleiben.
Denise Steiner* sitzt am Esszimmertisch und schaut sich die Wochenpläne ihrer beiden Söhne für die kommenden Tage an. Mit farbigen Feldern haben sie gemeinsam in diesen festgehalten, wann die Jungs Zeit für Hobbys und Freizeitaktivitäten haben, wann sie ihre Hausaufgaben machen und für Tests lernen müssen oder Therapie- und Arzttermine anstehen. «Diese Strukturierung des Alltags hilft unseren Kindern und verhindert, dass wir täglich neu über Abläufe diskutieren müssen», erzählt die 44-Jährige. Beim Lernen mit ihren Jungs bemüht sie sich, ihnen den Unterrichtsstoff möglichst anschaulich zu erklären. «Aber das kostet mich viel Zeit und Geduld, obschon sie durch ihr ADHS-Medikament deutlich konzentrierter sind.» Stösst Denise Steiner dabei an ihre Grenzen, löst ihr Mann sie ab. Die Eltern funktionieren gut als Team, ansonsten würden sie den Alltag mit ihren Söhnen nicht meistern.
Sind die Geschwister gereizt, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, weil sie sich dort viele Stunden zusammenreissen mussten, dann dürfen sie sich beim Trampolinspringen oder im Pumptrack auspowern. Oder Jerome greift zu seinem Schlagzeug und Ari zu seiner Gitarre. «Wichtig ist, dass sie lernen, ihre Gefühle zu regulieren, statt uns als Blitzableiter zu nutzen», betont Vater René Steiner. Laut ihm benötigen beide Söhne klare Regeln. Halten sie sich nicht an diese, werden Freizeitaktivitäten gestrichen, das Tablet gesperrt oder die Gamezeit verkürzt. «Dadurch wollen wir ihnen aufzeigen, dass ihr Handeln Konsequenzen hat», so der 42-Jährige. In erster Linie versuchen die Eltern jedoch, den Blick auf die Stärken ihrer Söhne zu richten, deren Selbstwertgefühl zu fördern, sie zum Lernen zu motivieren und mit gemeinsamen Aktivitäten zu belohnen.
Doch bis sich die Familie diese «Normalität» im Alltag erarbeitet hatte, war es ein mühsamer Weg von einer Diagnose zur nächsten, mit Gesprächen und Therapien bei verschiedensten Fachpersonen: Bei Jerome, dem älteren Sohn der Steiners, stellt der Kinderarzt mit vier Jahren zunächst fest, dass seine Fein- und Grobmotorik nicht altersentsprechend ist. Deshalb erhält die Familie wöchentlich Besuch von einer Heilpädagogin. Durch gezielte Übungen kann sie die Motorik des Jungen deutlich verbessern. Doch der Therapeutin fällt rasch auf, dass Jerome ständig in Bewegung sein muss, leicht ablenkbar und wenig ausdauernd ist. Dies lässt sie vermuten, dass Jerome eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben könnte. Da die Diagnosestellung jedoch erst ab sechs Jahren empfohlen wird, vertagt man die Abklärung.
Weil Jerome beim Sprechen Buchstaben verwechselt, bekommt er Logopädiestunden seit dem Kindergarten. Dort beobachten die Lehrkräfte, dass er gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ein halbes Jahr entwicklungsverzögert ist. Daher empfehlen sie seinen Eltern, den Jungen zunächst in eine Einführungsklasse (EK) zu geben, wo der Lernstoff der ersten Klasse auf zwei Schuljahre aufgeteilt wird. Parallel dazu macht Jerome sechs Monate lang eine Psychomotoriktherapie, die die Entwicklung von Gleichgewicht und Koordination sowie das Erleben und Ausdrücken von Gefühlen fördert. Doch der Erstklässler verbreitet durch seine Hyperaktivität viel Unruhe in der Klasse und tut sich schwer damit, seiner Lehrkraft über längere Zeit zuzuhören. «Das überfordert diese so sehr, dass sie Jerome gegenüber verbal überreagiert», so sein Vater. Daraufhin unterrichten die Steiners ihren Sohn bis zum anstehenden Schulwechsel zu Hause.
Die zweite Primarklasse erlebt die Familie mehr als «Abstellgleis». Aufgrund seiner Deutsch- und Rechenschwäche bekommt Jerome in beiden Fächern eine Lernzielanpassung, die seinen Eltern zufolge aber eher einer «Lernzielbefreiung» gleicht: «Bis zur dritten Klasse hat er nur im 20er-Raum gerechnet und nicht richtig schreiben und lesen gelernt», weiss seine Mutter. Nun leitet der Schulpsychologische Dienst (SPD) endlich die ADHS-Abklärung ein. Wegen der starken Ausprägung seiner Symptome erhält Jerome einen IV-Status und die Eltern werden fortan durch eine IV-Beraterin unterstützt.
ADHS-Diagnose als Wendepunkt
Die Diagnose empfinden die Steiners als grosse Erleichterung: «Weil wir nun endlich den Grund für Jeromes Verhalten kennen und uns gezielt Hilfe holen können», so die Mutter. Seitdem macht ihr Sohn eine Verhaltens- sowie eine Ergotherapie und nimmt während der Schulzeit jeden Morgen ein ADHS-Medikament. In den Ferien und an den Wochenenden lässt Jerome die Tabletten weg, ausser es steht gerade eines seiner geliebten Handballturniere an. «Für uns ist dies jeweils ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Insbesondere wenn beide Söhne zeitgleich hyperaktiv sind. Dann ist bei uns Feuer unter dem Dach», erklärt der Vater. Auch in der Schule kommt es nach der Diagnose zu einem positiven Wendepunkt für Jerome: Dank eines runden Tisches, an dem seine Eltern, der Rektor, der SPD, die Heilpädagogin und sein zukünftiger Lehrer teilnehmen, kann sich dieser gezielt auf den Jungen vorbereiten. Dadurch gelingt es der neuen Lehrperson, den Drittklässler bei seinem Interesse für Technik zu packen. Denn bei Lego, Werkzeugen, Maschinen und Kraftwerken entwickelt der Junge einen grossen Entdeckerdrang, kann sich stundenlang konzentrieren und sogar aus dem Stegreif einen Vortrag halten. Darüber hinaus stellt der neue Lehrer nach kurzer Zeit fest, dass bei Jerome eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) vorliegt. Aus diesem Grund hat der Zehnjährige nun Anrecht auf Unterstützung durch eine Klassenassistenz oder heilpädagogische Fachkraft, die ihm Aufgabenstellungen und Texte vorliest.
Bei Kindern mit ADHS lassen sich die Lern- und Prüfungsbedingungen im Rahmen eines Nachteilsausgleichs anpassen. Zum Beispiel mit einer verlängerten Bearbeitungszeit und Pausen, aber auch mit mündlichen statt schriftlichen Prüfungen oder mit einer ruhigeren Umgebung. Ziel einer Lernzielanpassung ist es, mithilfe eines individuellen Förderplans Lerninhalte, -pensen oder -ziele zu verändern, um sie auf die individuellen Fähigkeiten des jeweiligen Kindes abzustimmen. Dieses Vorgehen ist oftmals mit einer im Zeugnis vermerkten Notenbefreiung verbunden. Besteht ein Anspruch auf integrative Sonderbeschulung, kann zudem eine Einzel- oder Gruppenunterstützung durch eine Betreuungsperson in Form einer Klassenassistenz, schulischen Heilpädagogin oder zweiten Lehrperson in Anspruch genommen werden. Falls sich bestimmte inhaltliche Lernziele oder Leistungsanforderungen aufgrund einer Beeinträchtigung nicht erreichen lassen, kann ein Kind im Rahmen einer Lernzielbefreiung davon entbunden werden. Dies wird ebenfalls im Zeugnis vermerkt.
Weiterführende Infos und Hilfe
elpos.ch/elternhaus-und-schule/
zhaw.ch → Schlagwortsuche: ADHS Oskar Jenni für die Broschüre «Kinder fördern. Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S im Entscheidungspr
Bei Ari, dem jüngeren Sohn der Familie, sind die ADHS Symptome etwas anders ausgeprägt als bei seinem Bruder: «Er ist sehr impulsiv, reagiert daher schnell auf Sticheleien und hat eine geringe Frustrationstoleranz», erklärt René Steiner. Wenn sich der Junge überfordert fühlt oder als Aussenseiter behandelt wird, überspielt er seine Unsicherheit, indem er den Klassenclown gibt oder flunkert. Seit seiner Abklärung mit sechs Jahren erhält Ari nun die gleichen ADHS-Therapien wie sein Bruder sowie Logopädiestunden.
Schaut die Familie zurück auf ihren bisherigen Weg, kommt sie zu dem Schluss, dass eine frühere ADHS-Abklärung sicher hilfreich gewesen wäre: «Dann hätten wir unsere Söhne bereits vor Schulbeginn entsprechend unterstützen können und sie wären dort etwas positiver gestartet, anstatt lange das Gefühl zu haben, immer nur das Problemkind zu sein», betonen die Eltern. Was die Zusammenarbeit mit der Schule betrifft, so ist ihr Fazit: «Wenn alle Beteiligten von Beginn weg am gleichen Strick gezogen hätten, wäre uns allen viel erspart geblieben.»
Unterdessen hat Denise Steiner vernommen, dass der Schulpädagogische Dienst nun schon in den Spielgruppen darauf achtet, ob Kinder auffälliges Verhalten an den Tag legen. Das gibt ihr die Hoffnung, dass anderen Familien frühzeitiger geholfen wird.
* Zum Persönlichkeitsschutz wurde der Name anonymisiert.