Spracherwerb
Wie lernen Babys sprechen?
Wie gelingt Babys eigentlich die knifflige Sache mit dem Spracherwerb? Ein Besuch im Potsdamer BabyLab, wo Tausende kleine Probanden an Forschungsprojekten teilnehmen.
Wer sich auf die Spur des Sprach-Ursprungs bei Babys begibt, macht sich am besten auf den Weg nach Potsdam. An der dortigen Universität versuchen Forscher zu begreifen, wie Babys und Kleinkinder Sprache erlernen. Welche Laute verstehen sie als Erstes? Was hilft ihnen dabei, schneller die Muttersprache zu verstehen?
Denn wächst ein Baby heran, kann es Löffel und Gabel benutzen oder den Lieblingslippenstift seiner Mutter an den Hund verfüttern. Der Mini-Nachwuchs macht so viele verwirrende Dinge, dass wir uns fragen: Was geht in den kleinen Köpfen vor? Wie viel verstehen sie über die Welt um sich herum und ihren Platz darin?
Das BabyLab gibt es an der Universität Potsdam seit Mitte der 1990er-Jahre. Jährlich durchlaufen gut 1250 Kinder die Tests. Die Einrichtung kooperiert eng mit der kognitiven Psychologie, die sich mit der sehr frühen Entwicklung beschäftigt. Im Jahr 2020 führen Forscher an der Universität Potsdam die im Text erwähnte Studie durch. Die nähert sich der Sprachfähigkeit und den Lernprozessen von Babys und tgrägt den Titel: «Effekte von Variabilität im Input auf Wortlernen und Worterkennen bei Kleinkindern.»
Mögliche Antworten finden sich hinter einer schnöden Glastür. Auf dieser steht mit blau-oranger Schrift: «Willkommen im BabyLAB». Darüber schwebt die Silhouette eines Babys, über dem eine leere Sprechblase prangt. Im Zimmer mit den vielen Spielsachen, die die Wartezeit bis zum Test überbrücken sollen, sitzen an diesem Morgen noch vor dem Corona-Lockdown in Europa der neun Monate alte Kasper und seine Mama Georgia Lautner, 33 Jahre alt. Sie erzählt: «Wir sind heute zum vierten Mal zu Besuch. Ich finde es sehr gut, was man hier erforscht. Es ist spannend zu sehen, wie mein Kind auf die Tests und die Situation reagiert.» Denn Kasper agiere «je nach Tagesform und den jeweiligen Aufgaben». Auf das Ergebnis der aktuellen Studie freut sie sich besonders. Die wird wohl 2021 publiziert.
Babys als Forschungsteilnehmer
Jetzt nimmt sie ihrem Sohn einen rotweissen Stoffwürfel aus der Hand, den er sich gerade in den Mund stopft und sagt: «Nein, Kasper, das lassen wir bitte mal bleiben. » Dann ist es an der Zeit für den heutigen Test. Mutter Lautner hebt ihr Kind auf den Arm und geht mit ihm ins Blickbewegungslabor, Raum 1.23. Darin steht in einer Ecke ein 27-Zoll-Monitor mit einer aufgesteckten Minikamera und Lautsprechern. Kasper darf es sich gleich auf dem Schoss der Mama bequem machen und auf einen Bildschirm schauen. Georgia Lautner setzt sich eine abgeklebte Brille auf die Nase, damit der Junior nicht einfach die Blickrichtung der Mutter kopiert. Denn: So würde die Messung verfälscht.
Mit im Raum sind Laborleiter Tom Fritzsche, der sich seit Jahren um die Materie kümmert, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Pia Müller, die den Test durchführt. Eben hat sie noch schnell das rote «Experiment läuft»-Schild von aussen an die Tür gehängt.
Fritzsche erklärt, was jetzt passiert: «In der Studie erlernt Kasper zwei neue Wörter, die sich relativ ähnlich sind. Er sieht dazu auf dem Bildschirm zuerst links einen neuen, unbekannten Gegenstand. Jener bewegt sich auf und ab, damit es interessant bleibt. Sechs Mal fällt dessen vermeintlicher Name ‹Deek›. Danach erscheint rechts ein weiteres, neues Objekt. Das heisst ‹Diet›.» Danach zeige das Programm beide Objekte und es falle ein Wort, das mit beiden nicht genau übereinstimmt, jedoch sehr ähnlich klinge wie ‹Deet›.
«Durch seine Blicke auf beide Objekte, die ein System mit dem Namen Eyetracker erkennt und misst, überprüfen wir, ob er dieses dritte Wort systematisch mit einem der zwei Elemente verbindet», erklärt Müller.
20 Minuten im Einsatz
Dazu existiert die Arbeitshypothese der Konsonantenverzerrung. Darunter verstehen Experten die Tendenz, sich bei der Verarbeitung von Wörtern mehr auf Konsonanten als auf Vokale zu verlassen. Das bedeutet, dass Kasper dann wohl mehr auf das rechte Objekt «Diet» schaut, weil dort die Konsonanten übereinstimmen – nicht aber der Vokal. Fischt der junge Geist des Buben die korrekten Daten aus der audiovisuellen Infoflut – und versteht die Sache mit den Konsonanten? Experte Tom Fritzsche glaubt, «dass Kinder die richtigen Gegenstände assoziieren». Genaueres weiss er erst, wenn die Tests mit 24 Kindern enden.
Mutter und Kind ruckeln sich jetzt kurz auf dem Stuhl vor dem Eyetracker-Bildschirm zurecht. Dann ertönt der erste Satz: «Schau mal, ein Deek! Das ist ein Deek.» 20 lange Minuten folgen die Augen des Kleinen den Clips, die Müller für ihn auf dem PC abspielt. Schaut Kasper davon gelangweilt nicht mehr auf den Bildschirm, ertönt eine kurze Tonfolge, die die nächste Aufgabe startet. Dann ist es geschafft. Kasper vertont das Testende mit einem kleinen Juchzer, gefolgt von Miniglucksern.
Erstaunlich, dass das Baby die gesamte Zeit über tapfer bei der Sache blieb. Das fiel auch der Mama auf. «Heute war ein guter Tag», freut sie sich. Auch Pia Müller ist zufrieden und ruft dem Partizipantenpaar zu: «Dankeschön, das war prima!» Über ihr Tun im Dienste der Wissenschaft sagt die 22-jährige Psychologiestudentin: «Ich finde das Forschungsterrain sehr spannend. Denn ab wann nehmen Kinder Worte und Laute exakt wahr?»
Das Experiment des Pharaos
Die Frage nach dem Ursprung der Sprache beschäftigt uns Menschen. Woher hat die Gattung Mensch sie eigentlich? Weshalb interessieren wir uns so sehr für das Thema? Nun, hier geht es um das Innerste unseres Seins. Schon in der Bibel heisst es im Evangelium des Johannes: «Im Anfang war das Wort und das Wort war Gott.»
Mehr als 600 Jahre vor Johannes dachte sich dazu im heutigen Ägypten Pharao Psammetich I ein interessantes Experiment aus. Dessen Zweck es sein sollte, herauszufinden, was die Ursprache der Menschheit sei. Höchst verwerflich setzte er dazu zwei Neugeborene in der Wildnis aus und überliess sie den Urgewalten. Betreut wurden sie von Palastmitarbeitern, die jedoch nicht mit ihnen sprachen. Welche Laute welcher Sprache würden sie dort wohl so erlernen? 24 Monate später holte man die Kleinkinder an den Hof zurück. Ihr Wortschatz bestand aus einem «bek bek», wahrscheinlich eine Kopie des in der Wildnis gehörten Ziegenmeckerns. Nur bedeutete in der Sprache des Königs «bekos» eben auch Brot. Somit hatte er vermeintlich endgültig bewiesen: Die Ursprache der Menschheit war die in seinem Land verwendete Sprache.
Heute begibt man sich nicht nur in Potsdam seriöser auf die Spur der Kommunikation. Noch im Jahr 1967 gingen Forscher davon aus, dass Kinder erst ab dem zwölften Monat Sprache erlernen und davor leider mentale Ebbe herrscht. Kleinstkinder hatten nach herrschender Lehrmeinung kein gutes Image und galten als ziemlich beschränkt. So hörten es auch Alison Gopnik, Patricia Kuhl und Andrew Meltzoff während ihres Studiums in den 1970er-Jahren. Heute gehören sie zu den führenden Vertretern im Metier der Entwicklungspsychologie, die solche Vorurteile mit frischen Experimenten über den Haufen warfen.
Mittlerweile ist in Potsdam auch die nächste Mama mit ihrem Sprössling im Warteraum eingetroffen. Saskia Drefs ist 29 Jahre alt, ihr Sohn Henry acht Monate jung. Auch Saskia wird sich in wenigen Minuten eine mit schwarzer Folie beklebte Brille auf die Nase setzen und gemeinsam mit ihrem Sohn der «Deet/Diek/ Deet»-Flut im Blickbewegungslabor lauschen. Alles ohne Salär, im Namen der Wissenschaft und nur, um die uralte Frage zu klären: Wann hat sich bei Babys wie Kasper und Henry das Gehirn so weit entwickelt, dass es Nuancen unserer Muttersprache erkennt?
Pharao Psammetich I hätte unseren heutigen Wissenschaftlern sicher mit hellster Freude gelauscht.
Prof. Dr. Barbara Höhle arbeitet im Bereich Psycholinguistik und Spracherwerb an der Universität Potsdam und leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Birgit Elsner aus der Entwicklungspsychologie das BabyLab.
wir eltern: Was erforschen Sie am BabyLab?
Barbara Höhle: Wir suchen nach den wichtigen Schritten, die sich beim Erlernen von Sprache zeigen. Diese Entwicklungsschritte geschehen sehr früh. Lange Jahre sah sich die Forschung nur an: Wann produzieren Kinder etwas? Wann fällt der erste Satz oder das erste Wort? Darüber hat man sich dann ein Bild gemacht, wie der Spracherwerb gelingt. Doch seit den 1980er-Jahren schauen wir uns die rezeptive Seite an.
Was bedeutet das?
Wir fragen: Wie reagieren Kinder auf Sprache? Dabei wurde erkannt, dass viele wichtige Schritte sehr früh stattfinden. Das bedeutet: vor dem Erreichen des ersten Lebensjahres. Und für diesen Zeitraum gibt es heute auch ausgefeilte Untersuchungsmethoden.
Wie untersucht man, was ein achtmonatiges Baby bereits versteht?
Eine Möglichkeit ist zu beobachten, wohin der Säugling schaut, wenn er einen Reiz hört. Auch gibt es die Möglichkeit der Hirnstrommessung. Die gelingt mit Sensoren, die man dem Kleinstkind in einer Kappe aufsetzt. Wir sehen dann neurophysiologische Reaktionen auf sprachliche Reize. Die Forschung hat ergeben, dass für grammatikalische und lautliche Kenntnisse besonders die ersten drei Lebensjahre entscheidend sind. Hier finden sich die wichtigsten Entwicklungsschritte des Kindes. Zudem finden sich Indikatoren, ob sein Spracherwerb im normalen Rahmen stattfindet – oder abweicht.
Wie steht es um die rezeptiven Fähigkeiten des Nachwuchses?
Wir haben gerade eine Studie beendet, bei der eine grössere Gruppe von Kindern im Alter von vier Monaten untersucht wurde. Interessant waren für uns deren sprachrhythmische Muster. In der deutschen, englischen und niederländischen Sprache sind diese Informationen für den Spracherwerb der Kinder sehr wichtig. Wie reagierten die Kinder auf das typisch deutsche Betonungsmuster? Wenn diese Resonanz besonders stark ausfiel, zeigten sich in einem Folgetest im Alter von fünf Jahren gute Sprachfähigkeiten. Wenn man es so sagen will: Kinder besitzen die Fähigkeit, sich Sprache selbst beizubringen.