
Tom Trachsel
ADHS
Eine Frage der Versorgungssituation
Von Yvonne Kiefer-Glomme
Stephan Kupferschmid von der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS erklärt, warum es zu Engpässen bei Abklärung und Therapie kommt.
Herr Kupferschmid, was ist der Grund dafür, dass Kinder mit ADHS erst mit sechs Jahren diagnostiziert werden?
Je früher die Diagnose gestellt wird, desto mehr müssen Umgebungsfaktoren, wie etwa die Eltern-Kind-Wechselwirkungen, einberechnet werden. Das ist komplex, mit einer höheren Unsicherheit verbunden und erfordert daher eine besonders fundierte neuropädiatrische oder kinderpsychiatrische Abklärung. Aber natürlich ist dies auch eine Frage der Versorgungssituation.
Momentan warten Menschen, die funktional nicht so hoch beeinträchtigt sind, in der Schweiz bis zu zwei Jahren auf einen Abklärungsplatz.
Grund dafür ist der Mangel an Fachärzt:innen und Psycholog:innen, aber ebenso die aktuelle Finanzierungssituation. Die ambulanten Leistungen werden nach wie vor nicht kostendeckend vergütet. Das wirkt sich nicht zuletzt in einer unzureichenden Zahl an Therapieplätzen bei Psychotherapeut:innen aus, insbesondere im ländlichen Raum.
Auch die Schulen kennen diesen Ressourcenmangel. Wie können Lehrkräfte die Chancengleichheit von Kindern mit ADHS verbessern?
Für die Förderung von Kleinkindern, die ADHS-Symptome oder Probleme im Motorikoder Spracherwerb aufweisen, können heilpädagogische Interventionen, Ergotherapie und Psychomotorik sowie der Besuch eines heilpädagogischen Kindergartens hilfreich sein. Ab der ersten Primarklasse stehen Lehrkräften der Nachteilsausgleich, die Lernzielanpassung und die Lernzielbefreiung als Massnahmen zur Verfügung. Wichtig ist, dass der Förderplan, der jedem dieser Instrumente zugrunde liegt, möglichst auf das jeweilige Kind zugeschnitten ist. Hierbei sind individuelle Merkmale wie Alter, Stärken, Bedürfnisse sowie die Lernumgebung entscheidend. Denn es gibt grosse Unterschiede bei Kindern mit einer ADHS-Diagnose, und entsprechend unterschiedlich reagieren sie auf Fördermassnahmen. Lehrkräfte sollten nicht nur darauf achten, was alles nicht funktioniert, sondern lösungsorientiert vorgehen und bereit sein, Massnahmen auszuprobieren. Der Kanton Zürich etwa hat eine gute Wegleitung mit Vorschlägen zum Nachteilsausgleich erstellt.
Welche Aspekte sollten bei der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden?
Eine Flexibilisierung der Unterrichtsgestaltung kann allen Schülerinnen und Schülern zugutekommen. Sie entscheiden beispielsweise selbst, wie sie auf das Schulmaterial zugreifen, in Printform, als Film oder Podcast. Sie entschieden auch, wie sie sich damit auseinandersetzen wollen, in Präsentationeen, Diskussionen oder Rollenspielen.
Was kann helfen, wenn es dennoch zu Konflikten zwischen Elternhaus und Schule kommt?
Der Nachteilsausgleich ist zwar kantonal geregelt, aber jedes Schulhaus verfügt über einen gewissen Entscheidungsspielraum und damit über Möglichkeiten, bei Bedarf kulanter zu reagieren. Daher ist die Kooperation von Schule und Elternhaus sehr wichtig. Schulpsycholog:innen und Heilpädagog:innen sollten hier Brücken bauen. Und wie im Fall der Familie Steiner einen runden Tisch organisieren, an dem man gemeinsam Lösungswege sucht. Es gilt, Situationen vorzubeugen, in denen Kinder durch ihr Verhalten den Unterricht stören und Lehrkräfte aufgrund von Überforderung überreagieren, weil es an personeller Unterstützung fehlt. Fakt ist, dass Inklusion auch gut für Kinder gestaltet werden muss, die einen höheren Bedarf haben.
ist Chefarzt des Psychiatriezentrums für junge Erwachsene (PZJE) der Privatklinik Meiringen und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS.