
Elisabeth Real
Reportage
Ein Leben für die Show – und die Familie
Priscilla Errani, 43, und Marco Moressa, 46, wurden in die Manege hineingeboren. Nun wächst auch Sohn Alessandro, 9, im Zirkus auf. Ein Familienleben im Wohnwagen, zwischen Scheinwerferlicht und Zirkusschule.
Alessandros Schulweg ist kurz. Er geht an Wohnwagen vorbei, sieht die Pferde grasen, der Geruch von Stroh liegt über dem Gelände. Dass die Schule bloss ein paar Quadratmeter gross ist, fällt ihm längst nicht mehr auf. «Es ist ein ganz normales Familienleben», sagt Priscilla Errani schulterzuckend. Ihr Mann, Marco Moressa, schüttelt lachend den Kopf. Er ist nicht ganz einverstanden: «Im Vergleich zu Leuten, die nicht im Zirkus leben, gibt es schon Unterschiede.»
Bern Wankdorf. Der Circus Knie ist eben erst hier angekommen. Die Zelte stehen bereits, werden gerade innen wie aussen geschrubbt und gewischt. In zwei Tagen starten die Shows. «Wir sind gerne in Bern, weil hier Zirkuszelt und Wohnwagen nebeneinander Platz haben», sagt Priscilla Errani, während sie in ihren Plateau-Crocs über das Gelände schlendert. Als Zirkusartistin ist sie es gewohnt, dass Privatleben und Arbeit eng miteinander verwoben sind. Sie kennt es nicht anders: Sie stammt aus der italienischen Zirkusfamilie Errani, deren Geschichte mehr als fünf Generationen zurückreicht. Dass sie heute mit dem Circus Knie unterwegs ist, ist kein Zufall: Ihr Cousin, Maycol Errani, ist der Mann der Circus-Knie-Direktorin Géraldine Knie.
«Fahr vorsichtig, Alessandro», ruft Priscilla Errani ihrem Sohn nach, der gerade auf einem kleinen elektrischen Motorrad an den Pferden vorbeiflitzt. Alessandro ist neun Jahre alt – und auch er wurde, wie seine Mutter, in die Zirkuswelt hineingeboren.
Alessandros Vater, Marco Moressa, kennt ebenfalls kein Leben ohne den Zirkus: Er war gerade zwei Jahre alt, als seine Eltern Arbeit in der Administration eines Zirkus fanden. 1998 wechselte die Familie zum Circo Errani. Priscilla und Marco waren noch Teenager, aber es funkte sofort – und seither leben und arbeiten sie zusammen. Ein Leben im Zirkus. Ein Leben auf Reisen.
Eltern mit Messern und Armbrust
Ab diesem Zeitpunkt werden noch gut 15 Jahre vergehen, bis Alessandro die beiden Artisten zu Eltern macht. Bis dahin ist das Paar in ganz Europa unterwegs. Marco Moressa, der begabte Jongleur, sagt, sein grosses Talent im Leben sei es, sehr präzise Bewegungen einstudieren zu können. Priscilla Errani, die Hula-Hoop-Tänzerin, kontrolliert mit ihrem Körper bis zu 30 Reifen gleichzeitig. Ihre Engagements führten sie zu verschiedenen Zirkuskompanien, auf Kreuzfahrtschiffe, in deutsche Varietétheater.
Irgendwann begannen die beiden, gemeinsame Nummern einzustudieren. Als Duo «Double Risk» feuerten sie nicht nur mit Messern aufeinander – oder besser gesagt: wahnsinnig knapp aneinander vorbei –, sondern auch mit der Armbrust. Jahr um Jahr hatte das Artistenpaar seinen Kinderwunsch hinausgeschoben. Nur noch dieses eine Engagement, sagten sie sich. Nur um im folgenden Jahr dasselbe Argument zu bemühen. Doch dann, mit der neuen Nummer, schien der Moment gekommen: Priscilla wurde schwanger. Und da sie somit nicht mehr HulaHoop tanzen konnte, bewarb sich das Duo «Double Risk» für die folgende Saison bei verschiedenen Kompanien. Sie erhielten einen Vertrag in einem deutschen Zirkus.
Mitte Januar 2016 kam Alessandro zur Welt. Am 6. März standen seine Eltern wieder mit Messern und Armbrust in der Manege. «Das war eine harte Zeit», erinnert sich Priscilla. «Neues Baby, neuer Zirkus, neuer Auftritt. Alles war neu.» Dazu kamen die schlaflosen Nächte, das ständige Reisen, die täglichen Auftritte. Aber die frischen Eltern erhielten auch Hilfe: «Im Zirkus sind wir wie eine grosse Familie. Wir unterstützen einander. Wenn wir unseren Auftritt hatten, haben sich andere Artisten um Alessandro gekümmert.» Als die Saison endet, ist Alessandro fast ein Jahr alt und bereits durch ganz Holland, Deutschland, Norwegen und Schweden gereist.
Alessandros zweites Lebensjahr verbrachte die Familie in einem Zirkus in Moskau. Alessandro besuchte die Zirkus-Kita, wo ihn die russischen Mitarbeitenden Sascha riefen, eine Kurzform des russischen Namens Aleksandr. Und als sie Moskau ein Jahr später wieder verliessen, hörte der kleine Alessandro nur noch auf seinen neuen russischen Spitznamen. Er soll erst spät angefangen haben zu sprechen, wohl weil er in diesen ersten Jahren mit so vielen unterschiedlichen Sprachen konfrontiert war. «Aber seit er angefangen hat, ist er nicht mehr zu bremsen», sagt Priscilla.

Ein grosses Zuhause auf Rädern
Seit 2020 lebt die Familie im Circus Knie und damit ein etwas stabileres Leben in der Schweiz: ohne tägliches Weiterreisen und mit dem Vorteil, jährlich an dieselben Orte zurückzukehren und diese besser kennenlernen zu können. Der Circus Knie gastiert während der Tournee an 24 Standorten in der Schweiz und spielt dabei 321 Vorstellungen. Immer mit dabei: «Unser Zuhause, der Wohnwagen.» Wer sich dabei einen kleinen Anhänger vorstellt, könnte falscher nicht liegen. Der Wohnwagen der dreiköpfigen Familie ist so gross, dass er von einem Lkw gezogen wird. Im Innern: eine perfekt aufgeräumte Stube mit zwei kleinen Sofas, ein Fernseher, ein Tisch für vier Personen, eine voll ausgestattete Küche, ein Bad, ein Kinder- sowie ein Elternschlafzimmer – und Chihuahua Kobe. Viele Menschen, die nicht auf Rädern wohnen, leben enger aufeinander.
«Wir waren sehr gute Artisten, darum können wir heute so schön leben», erklärt Marco Moressa. Er sagt «waren», weil er selbst seit zwei Jahren nicht mehr in der Manege steht. Er ist nun Backstage-Mitarbeiter mit festem Vertrag und fixen Arbeitszeiten. Priscilla Errani tritt weiterhin auf, im Akrobatik-Ensemble «Bingo». Abends, wenn seine Eltern arbeiten, kommt Alessandro mit ins Zirkuszelt. Dort hilft er seinem Vater im Backstage und liebt es, auch mal die Knöpfe drücken zu dürfen. Oder er spielt mit den anderen Zirkuskindern. Aber leider, so seine Eltern, leben im Circus Knie nur wenige Kinder. Was schade sei, weil Alessandro ein sehr soziales Kind sei. Sie versuchen, das so gut wie möglich zu kompensieren. Sie fahren mit dem Velo in die Stadt und besuchen Spielplätze. Oder sie schicken ihren Sohn ins Sommercamp. Gleichzeitig hat das Leben im Zirkus auch einen grossen Vorteil: Alessandro und seine Eltern verbringen sehr viel Zeit gemeinsam als Familie.
Das Schulzimmer im Zirkuswagen
Zur zirkuseigenen Schule geht Alessandro gemeinsam mit seinen Cousins Chanel und Maycol Junior, den Kindern von Géraldine Knie und Maycol Errani. Die Lehrerin reist mit, genauso wie das Schulzimmer, ein kleiner Zirkuswagen. Die Kinder erhalten ihrem Alter entsprechende Aufgaben und werden nach Lehrplan 21 unterrichtet – auch jetzt im Sommer. Dafür gibt es im Winter eine grössere Pause. Marco Moressa arbeitet während dieser Zeit im Winterquartier, Priscilla Errani und Alessandro besuchen währenddessen vielleicht Marcos Eltern in Mailand, die mittlerweile nicht mehr im Zirkus arbeiten. Aber meistens bleibt die Familie zusammen. Nur einmal waren sie für längere Zeit getrennt: Als Alessandro die erste Klasse in Italien besuchte, ging seine Mutter mit, während sein Vater im Circus Knie arbeitete. Berichten sie heute von dieser Zeit, werden beide ernst: «Wir sind es gewohnt, jede Minute miteinander zu verbringen. Das war wirklich schwierig für uns.» Umso dankbarer waren sie, als Priscilla als Artistin zurückkehren und Alessandro die Schule im Circus Knie weiterführen konnte.
Priscilla Errani und Marco Moressa

Alessandro liebt Mathematik und die Naturwissenschaften, sagt Priscilla Errani: «Gestern hat er ein Video gesehen, in dem Licht mit einer Kartoffel gemacht wurde. Zum Mittagessen gab es Kartoffelstock und er wollte das Experiment gleich nachmachen.» In der Schule lernt Alessandro ausserdem Deutsch, respektive «Hochdeutsch», wie er präzisiert, Dialekt verstehe er nicht so gut. Damit beherrscht er Deutsch bereits besser als seine Eltern, die doch viele Jahre in deutschsprachigen Ländern gelebt haben. «Unser Problem ist, dass so viele Leute im Zirkus Italienisch sprechen – also mussten wir es nie lernen», sagt Marco Moressa und lacht.
Ein Leben für die Show
Im Gegensatz zu Maycol und Chanel tritt Alessandro nicht im Circus Knie auf. Seine Eltern wissen noch nicht, ob sie ihm ein Artistenleben wünschen. Wurde früher jemand in den Zirkus geboren, fragte niemand, was diese Person eines Tages machen würde: Es war klar, dass sie im Zirkus bleibt. So wuchs auch Priscilla Errani auf. «Heute ist die Welt eine andere. Auch, weil es immer weniger Arbeitsmöglichkeiten für Zirkusleute gibt», so Marco Moressa. «Das Problem ist: Wenn du nichts anderes kennst als den Zirkus, wird es schwierig, irgendwann etwas ausserhalb des Zirkus zu machen.» Gegenwärtig ist es den beiden wichtig, dass es Alessandro gut in der Schule ergeht. So hat er die Möglichkeit, alles zu werden. Und werden will er, wie jedes Kind, so einiges: mal Feuerwehrmann, dann Arzt, aktuell Zauberer.
Aber es ist nicht nur Alessandros Zukunft, die Priscilla Errani beschäftigt. Auch ihre eigene. Realistischerweise wird sie nicht ihr Leben lang als Artistin auftreten können. «Ich weiss nicht, ob ich im Zirkus bleiben will, wenn ich die Manege nicht mehr betreten kann.» Ihr Mann, der den Schritt vom Artisten zum Backstage-Mitarbeiter gemacht hat, stimmt zu: «Wenn du gewohnt bist, dass dir jeden Abend 2000 Menschen zuklatschen, ist es schwierig, sich davon zu verabschieden.» Priscilla nickt nachdenklich, schaut auf, lächelt: «Ich lebe für die Show. So fühlt es sich für mich an. Aber jetzt will ich nicht weiter über die Zukunft nachdenken.» Lieber will sie den Moment geniessen. Jeden Moment ihres ganz normalen Familienlebens im Zirkus.