
Michael Furler
Familie
Nur zweite Wahl?
Kinder lieben Mama und Papa – aber manchmal wirkt es anders. In gewissen Phasen sind Kleinkinder komplett auf eine Bezugsperson fixiert und lehnen die andere vehement ab. Was steckt dahinter? Wie können Eltern damit umgehen – ohne verletzt oder verunsichert zu sein?
Nein ! ! Geh weg ! !», schreit der Bub jedes Mal, wenn die Mutter ihn wickeln will. Seit Wochen darf nur der Papi an die Windeln des Zweijährigen. Was die Eltern am Anfang noch herzig fanden – «der Kleine weiss halt, was er will» – wird langsam zur Belastungsprobe. Der Vater fühlt sich zunehmend gestresst, weil alles an ihm hängt. Der Mutter macht die permanente Abweisung zu schaffen. Bei der Nachbarsfamilie hingegen ist es gerade andersherum: Nur das Mami darf die Dreijährige abends zudecken. Taucht der Vater neben dem Bett auf, protestiert sie lautstark. Ungeachtet der Tatsache, dass Mütter und Väter häufig gleichberechtigt erziehen wollen, sind insbesondere Kleinkinder phasenweise stark auf ein Elternteil fixiert – und lehnen im Extremfall das andere völlig ab. Mama oder Papa dürfen dann nicht die Haare des Kindes frisieren, keinen Saft einschenken, nicht von der Kita abholen. Tun sie es doch, endet es im Meltdown des Nachwuchses. Und in einer emotionalen Achterbahnfahrt für Mutter und Vater. Warum also ist in vielen Familien ein Elternteil vorübergehend klar die Nummer eins?
«Kinder sind Spiesser», sagt Moritz Daum schmunzelnd im Videocall. Oder, wie der Entwicklungspsychologe an der Universität Zürich weiter erklärt: «Kinder orientieren sich an Routinen, Regeln und Erfahrungen – denn diese erleichtern es ihnen, vorherzusagen, was als Nächstes kommt.» Hat also bisher Mama gewickelt und Papa übernimmt auf einmal, wird die Routine verletzt. Weil Kinder ihre Emotionen jedoch noch nicht regulieren können, schaffen sie es nicht so schnell, die von ihnen als Regelbruch empfundene Situation zu akzeptieren. Und lehnen sich erstmal dagegen auf.
Warum nur einer zählt
Ausserdem kommt es auch darauf an, in welcher Entwicklungsphase sich ein Kind befindet, ergänzt Maren Tromm: «Je nachdem, was Kinder gerade brauchen, orientieren sie sich eher an derjenigen Bindungsperson, die ihrem Bedürfnis besser entspricht», so die Erziehungsberaterin, die ihre Praxis in Baden AG hat. Die Kleinen spüren intuitiv: «Wenn ich ins Bett gehe, beruhige ich mich bei Mama schneller» oder «Wenn Papa mich aus der Kita abholt, spielen wir immer ein lustiges Spiel, das ist beim Abschied aus der Kita schöner.» Dies speichern sie ab unter «das hat mir gutgetan» und ziehen das entsprechende Elternteil vor.
Vielleicht matcht die hochsensible Tochter mit ADHS-Diagnose also gerade besser mit Papa, weil dieser Orientierung und Klarheit vorgibt. Während sich ihr Bruder – der mit dem väterlichen Regelwerk weniger anfangen kann – sich eher zur bedürfnisorientierten Mutter hingezogen fühlt. Manchmal bevorzugen Kinder aber auch ganz profan dasjenige Elternteil, das den ganzen Tag ausser Haus gearbeitet hat, erst am Abend zur Familie stösst und so Abwechslung in den Alltag bringt.
«Gleichzeitig hängt es auch davon ab, wie stark ich als Erwachsene in der Lage bin, empathisch auf mein Kind einzugehen», gibt Maren Tromm zu bedenken. «Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Fähre, die unterzugehen droht. Dann wünschen Sie sich einen Kapitän, der lächelt und Ruhe bewahrt. Genauso ergeht es Kindern: Sie ziehen eine Bindungsperson vor, die in einer bestimmten Situation Sicherheit und Kompetenz ausstrahlt. Die einem einen Rettungsring zuwirft – und zwar genau so, wie sie es brauchen.»
Moritz Daum, Entwicklungspsychologe
Heute bevorzugt, morgen zweite Reihe
Ob nun Mutter oder Vater bevorzugt werden, wechselt dabei sehr stark, weiss Moritz Daum. «Laut Studien ist in den ersten 1,5 Jahren oft die Mutter die Nummer eins. Worauf häufig eine akute Papa-Phase folgt, die wiederum von einer Mama-Phase abgelöst wird.» Doch am Ende sei das Bindungsgeflecht vor allem ein sehr dynamisches System mit vielen Einflussfaktoren. Denn die kindlichen Bedürfnisse ändern sich mit der Weiterentwicklung des Nachwuchses ständig: Wer heute noch bevorzugt wird, steht morgen vielleicht schon wieder in der zweiten Reihe. Und auch äussere Entwicklungen wirken sich aus: Verschiebt sich die Balance innerhalb der Familie, weil die Mutter wieder anfängt zu arbeiten oder ein Geschwisterchen auf die Welt kommt, beeinflusst dies oft auch die Bindungspräferenz der Kinder. «Ziehen Kinder Mutter oder Vater vor, handeln sie also nicht aus Ablehnung, sondern aus Bindungslogik», betont Maren Tromm.
Wie aber reagieren Eltern am besten auf kindliche Abweisung? «Entspannt euch !», gibt Moritz Daum Eltern mit auf den Weg, «das ist total normal.» Mütter und Väter sollten dieses Verhalten ihrer Kinder nicht bewerten und vor allem nicht persönlich nehmen. Generell gelte: «Bin ich happy, wenn auschliesslich ich das Kind füttere und für meinen Partner passt dies auch – ist alles ok», so der Entwicklungspsychologe. «Bin ich aber darauf angewiesen, dass mein Partner ebenfalls das Kind füttert, sollten wir Eltern versuchen, einen sanften Wechsel hinzubekommen.»
Das Kind will nur von Papa zugedeckt werden? Dann kann es als Mama hilfreich sein, ganz genau zu beobachten, wie Papa dies tut, und vielleicht sogar ein Spiel daraus zu machen. Also konkret zu schauen: Wie fasst er die Decke an? Wie schaut er dabei? Wie ist das Licht? «Ich hatte mal eine Familie in der Beratung, da hat die Mutter bis ins kleinste Detail versucht, den Vater zu imitieren», erzählt Maren Tromm. «Das Kind fand das lustig – und irgendwann durfte Mama auch zudecken.»
Zusammen statt gegeneinander
«Wichtig ist, dass die Beziehung zwischen den Eltern in dieser Situation stabil bleibt und die beiden sich nicht als Konkurrenz erleben», findet Moritz Daum. Dass also das momentan bevorzugte Elternteil das andere nicht abwertet («Du kannst nicht wickeln!») oder sich gar mit dem Kind verbündet. Holt sich etwa das Kind immer nur Trost bei der Mutter und der Vater fühlt sich deshalb ausgeschlossen, ist es hilfreich, wenn die Mutter versucht, eine Brücke zu bauen – indem sie etwa darauf hinweist: «Papa kann dich auch trösten» – und probiert, den Vater miteinzubeziehen.
«Generell ist es nicht fair, wenn ein Elternteil Dinge wie Füttern, Wickeln oder Ins-Bett-Bringen für sich alleine beansprucht und dies dem Partner nicht zutraut», findet Daum. Schliesslich gebe es immer wieder Situationen, in denen der andere übernehmen müsse. Ist dieser dann unsicher, weil ihm die Übung fehle, merke das Kind dies genau – woraufhin sich die Situation noch schwieriger gestalte.
Was aber tun, wenn ich als Mutter oder Vater unter der Ablehnung meines Kindes leide? «Ich verstehe den Schmerz», sagt Maren Tromm. «Fühlen sich Elternteile angesichts der Zurückweisung nachhaltig minderwertig, lohnt sich ein Blick auf das eigene Bindungsmuster.» Oft habe die emotionale Reaktion mehr mit der eigenen Beziehungserfahrung zu tun als mit dem Verhalten des Kindes. «Und genau dort setzt die eigentliche Auseinandersetzung an.»
Will sich das Kind etwa nur vom anderen Elternteil ins Bett bringen lassen, sei es wichtig, sich als abgelehnte Mutter oder Vater nicht zurückzuziehen oder gar abwertend auf den Nachwuchs zu reagieren («Darf ich dich nicht zudecken, lese ich dir auch nichts vor.»). Stattdessen helfe es, wenn das verschmähte Elternteil liebevoll und beharrlich signalisiere: «Ich bin auch da, falls du mich brauchst.» Genau hinschauen («Was macht mein Partner, meine Partnerin anders? Was braucht mein Kind?») und in der konkreten Situation empathische Bindungsangebote machen, sei ebenfalls wichtig. «Auch wenn mein Kind nicht möchte, dass ich es ins Bett bringe, laufe ich also nochmal an seinem Zimmer vorbei und rufe ‹Schlaf schön, mein Schatz !›», schlägt Maren Tromm vor. «Oder ich versuche, ein Kuscheltier als Brücke zu nutzen, und baue damit Kontakt auf.»
Loslassen schafft Nähe
Allerdings entsteht Bindung ja nicht nur, wenn Kinder etwas konkret einfordern – vielmehr lassen sich Bindungsmomente auch aktiv von Elternseite aus gestalten. Was bedeutet: Wer heute als Elternteil in einer konkreten Situation abgelehnt wird, schlägt morgen vielleicht ein gemeinsames Spiel vor, eine gemeinsame Unternehmung, und vermag damit ebenfalls Nähe zum Nachwuchs herzustellen.
Und auch das momentan beliebtere Elternteil könne viel bewirken, findet Maren Tromm: «Werde ich als Mutter von meinem Kind bevorzugt, liegt es auch an mir, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen der Vater Bindungserfahrung sammeln kann.» Sprich: Loslassen, sich für einen Tag bewusst rausziehen, dem Partner vertrauen, dass er ebenso gut vorlesen, Streit schlichten und auf den Spielplatz gehen kann. Er mag dies vielleicht anders machen – aber nicht weniger gut.
Die Elternberaterin wirft dabei einen Blick in andere Kulturen, in denen Kinder sprichwörtlich von einem ganzen Dorf grossgezogen werden und damit viel mehr Bindungspunkte haben. «Mütter und Väter hierzulande müssen im Vergleich sehr viel mehr leisten», so die Elternberaterin. «Deshalb sollten wir uns über jeden einzelnen Bindungspunkt unserer Kinder freuen – und diese nicht als Konkurrenz sehen.» Allerdings gelte dies nur für gute Bindungsmuster: Lehnt ein Kind dauerhaft eine Person ab – trotz Versuchen, daran etwas zu ändern –, sollte man eine Fachperson hinzuziehen.
«Insgesamt gibt es für Kinder wie für uns Erwachsene aber nichts Schöneres, als wenn wir zwischen unterschiedlichen Personen auswählen können, die für uns da sind», findet Maren Tromm. Personen, die auch dann noch mit ausgebreiteten Armen stehen bleiben, wenn wir uns für die Hilfe von jemandem anderen entscheiden. Und die trotzdem weiter signalisieren: «Ich bin da, wenn du mich brauchst!»