Geschwister
«Der Marius hat aber mehr!»
Josefs Vater machte aus seiner Vorliebe für den Jüngsten keinen Hehl. Das Nesthäkchen wurde bevorzugt, bekam tolle Kleider und wurde vor allen anderen über den grünen Klee gelobt. Die anderen Brüder fanden das wenig witzig und warfen den verhassten Rivalen kurzerhand in einen Brunnen. Eifersucht zwischen Geschwistern hat zwar nicht immer so dramatische Folgen wie in der biblischen Geschichte von Josef und seinen Brüdern, aber Streit und Gifteleien gehören durchaus zum alltäglichen Repertoire geschwisterlicher Beziehungen. Die kleine Schwester, der grosse Bruder: In der Kindheit sind sie Vorbild, Konkurrent, Lehrerin, Störenfried … In jedem Fall aber sind Geschwister aufs Engste miteinander verbunden. Klar, dass da Eifersucht aufkommt.
Leon etwa hätte seinen Bruder Marius vier Wochen nach dessen Ankunft sehr gern wieder zurückgegeben; zu doof zum Fussball spielen, aber dauernd auf Mamas Arm. «Du kannst ihn gerne mitnehmen», ermunterte er seine Tante, als der blöde Bruder wieder mal schrie.
Die zweijährige Milena versuchte bei der Geburt ihrer Schwester Andrea erst einmal, die «Neue» einfach zu ignorieren. Sie schaute im Spital kurz in das Babybettchen, nahm von Mama das – in weiser Voraussicht extra für diesen Moment gekaufte – Kuscheltier entgegen und wollte dann wieder gehen. Ganz so, als ginge sie die Angelegenheit nichts an.
«Entthronungs-Schock» nennen Psychologen die frustrierende Erfahrung von Erstgeborenen, die durch ein Geschwisterkind plötzlich ihre Prinzenrolle verlieren. Da war man Mamas ein und alles; und plötzlich ist man ihr nur noch zuviel, liebt die doch noch einen anderen, schmust mit ihm, tröstet ihn, wickelt ihn, stillt ihn, trägt ihn herum. Wenn das nicht kränkend ist!
Da gilt es den Thron zu verteidigen. Schliesslich geht es um viel. Das Wort «Rivale» bedeutet ursprünglich «jemandem das Wasser abgraben». Ohne Wasser kann man aber nicht leben. Also werden Rivalen um die Liebe der Mutter tatsächlich als höchst bedrohliche Konkurrenten empfunden.
Finger weg von meiner Mama!
Beobachtungsstudien zeigen, dass Babys bereits mit sechs Monaten eifersüchtig reagieren, wenn die Mutter eine lebensechte Puppe hätschelt. Sie bleiben dagegen völlig gelassen, wenn Mama sich einem Bilderbuch widmet. Die Psychologin Yvonne Schütze kam zu ähnlichen Resultaten. Sie beobachtete Geschwisterpaare über zwei Jahre nach der Geburt des zweiten Kindes. Auch sie stellte fest, dass die Kinder anfangs kaum eine eigene Beziehung zueinander aufbauten. Das änderte sich allerdings, sobald das Baby anfing zu krabbeln und an die Spielsachen rankam. Nun schlug die Eifersucht der Älteren oft in Aggression um, was die Kleinen buchstäblich am eigenen Leib zu spüren bekamen.
Bei der Ankunft eines «Kleinen» wollen die, die nun plötzlich «die Grossen» genannt werden, erst mal überhaupt nicht die Grossen sein. Wo das neue Baby ja gerade durch seine Kleinheit unübersehbare Vorteile hat. Also versuchen die Entthronten es mit einem Zurückfallen in vermeintlich überwundene Babyallüren. Sie wollen wieder aus dem Schoppen trinken und Windeln tragen; sie können plötzlich nur noch in Babysprache reden und brauchen zum Einschlafen unbedingt einen Nuggi; und vor allem wollen sie immer dann auf Mamas Schoss, wenn der Nebenbuhler sich da gerade zum Trinken breit gemacht hat.
Für die Mutter von Marius und Leon waren das schwierige Situationen, hatte sie doch zeitweilig Angst, Leon würde seinen Bruder ernsthaft verletzen, sobald sie die beiden allein im Zimmer liess. Einmal erwischte sie Leon dabei, wie er dem Kleinen in den Finger biss. Als sie den Grossen erschrocken wegriss, fing er hysterisch an zu weinen und war kaum zu beruhigen. Drei Tage trank er nur aus der Babyflasche, machte nachts ins Bett und redete kaum. Dann war der Spuk vorbei. Leon hatte offensichtlich für sich beschlossen, die neue Situation zu akzeptieren.
Und plötzlich ist er nur noch einer von mehreren
In der Regel erkennen die kleinen Entmachteten ziemlich schnell, dass die «Baby-Taktik» nicht die gewünschten Konsequenzen hat. Wenn sie Pech haben, reagiert Mama nämlich sogar gereizt auf ihren Versuch, das bessere Baby zu sein. Die meisten schicken sich daher irgendwann in ihre Rolle der «Älteren», die schon so viel können und doch geradezu zum Beschützer der Kleinen und Schwachen geboren sind. Sie akzeptieren notgedrungen, künftig nur noch «einer von mehreren» zu sein.
Die Eifersucht hört damit natürlich nicht auf. Denn das Ringen um Zuwendung und Liebe der Eltern ist nur eine Ursache der geschwisterlichen Rivalität. «Schaut man genauer hin, woran sich Geschwisterstreit entzündet und warum es immer wieder zu aggressiven Auseinandersetzungen kommt, so wird deutlich, dass es in erster Linie die ständigen Vergleiche sind, welche die Geschwister bezogen aufeinander anstellen und die sie bewegen, miteinander in Konkurrenz zu treten», schreibt der Geschwisterforscher Professor Hartmut Kasten im Online-Familienhandbuch. Geschwister können gar nicht anders, als sich zu vergleichen. Sie sind sich ähnlich – immerhin ist im Durchschnitt die Hälfte ihrer Gene identisch – und sie leben zusammen. Also kriegt man automatisch mit, was der Bruder schon kann und man selbst nicht, was die Schwester darf und man selbst nicht, was der Kleinere erreicht und man selbst nicht.
Am stärksten rivalisieren dabei Brüder unter sich; zwischen Schwestern geht es etwas gesitteter zu und am wenigsten Probleme macht die Eifersucht bei gemischt geschlechtlichen Geschwisterpaaren. Jüngere Geschwister leiden in der Regel weniger heftig unter Eifersucht; schliesslich haben sie Mama und Papa nie für sich allein gehabt und sind von Anfang an daran gewöhnt, deren Aufmerksamkeit zu teilen. Oft sind sie daher die «Charmanteren», weil sie weniger mit aggressiven Gefühlen zu kämpfen haben und schnell Fähigkeiten entwickeln, den Machtansprüchen der Älteren aus dem Weg zu gehen und das Wohlwollen der Erwachsenen zu gewinnen.
Konkurrenz belebt – manchmal – das Geschäft
Doch Rivalität muss nicht nur schlecht fürs Familienklima sein. Wer ein Vergleichsobjekt täglich so nah vor Augen hat, wird dadurch auch angespornt, herauszufinden, was er selbst kann und wer er ist. «Eifersucht ist ein gesundes Gefühl, solange Geschwister dadurch in konstruktiver Weise konkurrieren», sagt der Psychologe Jürg Frick von der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Wenn mehr Eifer als Sucht vorherrscht, wirkt Eifersucht als Motor, als Antrieb.» Dass Leon schon ganz cool mit seinem Dreirad durch die Wohnung düste, liess dem zweijährigen Marius keine Ruhe. Das wollte er auch können. Also schnappte er sich bei jeder Gelegenheit Leons Rad und übte. Nur wehe, wenn Leon ihn dabei erwischte! Fünf Jahre später stritten die beiden Brüder immer noch gern und häufig. Doch sobald die Eltern eine so hundsgemeine Entscheidung wie «Fernseher aus!» trafen, waren sie plötzlich ein Herz und eine Seele. Ein eingeschworenes Team im gemeinsamen Kampf gegen die elterlichen Zumutungen.
Ich liebe alle Kinder gleich! Von wegen.
Rivalität hört mit zunehmendem Alter nicht auf, sie wird höchstens subtiler. Wenn die Geschwister zu Hause ausziehen und ihre eigenen Wege gehen, entspannt sich das Verhältnis meist deutlich. Im Alter, wenn die Berührungspunkte vielleicht wieder zunehmen, verstärkt sich das Rivalisieren aber nicht selten erneut und die Frage: «Wen hatte Mama mehr lieb?», entzündet sich dann gern an Erbstreitigkeiten.
Eltern streuen oft unbewusst Salz in diese Wunden der Eifersucht, indem sie ihren Nachwuchs und deren unterschiedliche Fähigkeiten bewerten. «Die Grosse ist total unsportlich», «den Kleinen muss ich nie ermahnen, dass er seine Hausaufgaben macht.» Solche Etiketten spiegeln den Kindern die unterschiedlichen Präferenzen der Eltern.
Auch wenn die noch so oft beteuern, sie würden alle Kinder gleich erziehen und natürlich alle gleich lieben: Es stimmt nicht. Wäre ja auch merkwürdig, wenn Eltern ihre Kinder nicht ihrem Alter und ihren je eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend behandeln würden. Und keines der Kinder erlebt die Familie gleich. Weil sich die Familie mit jedem Zuwachs – und ganz einfach durch das Älterwerden ihrer Mitglieder – stetig verändert. Eltern haben zu jedem Kind eine andere Beziehung, zu den Mädchen eine andere als zu den Buben, zum Ältesten eine andere als zum Jüngsten.
Schon Kain erschlug den Abel
Nicht selten sind besondere Sympathien, Bevorzugungen oder auch Benachteiligungen in den eigenen Geschwisterbeziehungen der Eltern begründet. Eine Mutter, die selbst die Jüngste war, wird ihrem jüngsten Kind gegenüber vielleicht ein besonderes Einfühlungsvermögen entgegenbringen. Ein Vater, der als Ältester vieles erkämpfen musste, wird seinen ältesten Sohn möglicherweise auch stärker fordern als die jüngeren. Oder ihn umgekehrt wegen seiner eigenen Erfahrungen bevorzugen.
Fragt man Erwachsene nach ihren diesbezüglichen Erfahrungen, geben bis zu zwei Drittel an, ihre Eltern hätten eines der Kinder vorgezogen. So mancher Psychotherapeut lebt davon.
Geschwister kann man sich nicht aussuchen. Manche liebt man besonders, mit anderen reibt man sich sein Leben lang. Ob man Erstgeborener, Sandwichkind oder Nesthäkchen ist, prägt die Rolle, die man in der Arbeitswelt spielt und die Partnerwahl. Mit niemandem sonst hat man eine so lange Beziehung wie mit den Geschwistern. Bruderzwist und Schwesternstreit sind so alt wie die Menschheit. Schon Kain erschlug, laut Altem Testament, seinen Bruder Abel, weil Gott dessen Opfergaben mehr schätzte als seine. Heinrich Mann brach den Kontakt zu seinem erfolgreicheren Bruder Thomas ab, angeblich weil der 1914 in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmte. Die Brüder Adolf und Rudolf Dassler gründeten 1923 gemeinsam eine Schuhfabrik. 1948 kam es zum Bruch, weil Rudolf ins Internierungslager musste und glaubte, sein Bruder habe ihn denunziert. Deshalb gibt es bis heute in Herzogenaurach zwei Firmen, die Sportschuhe herstellen: Adidas (ein Kürzel seines Namens, das Adi Dassler nach der Trennung von seinem Bruder als Firmenname wählte) und Puma (das war der Spitzname von Rudolf Dassler). Die Brüder haben sich bis zu ihrem Tod nicht wieder versöhnt. Schade – bei der Ähnlichkeit.
Wie Sie der Eifersucht keine Nahrunggeben
Eltern können eine Menge dazu beitragen, dass die Eifersucht unter den Geschwistern gemildert wird:
- Versuchen Sie nicht, vor der Geburt das neue Geschwisterkind als Spielkameraden anzupreisen. Das Erstgeborene wird schnell merken, dass das gar nicht stimmt, weil man mit dem Baby weder Sandburgen bauen noch Fussball spielen kann.
- Lassen Sie die «Grossen» bei der Babypflege helfen; holen Sie dabei ihren Rat ein: «Was meinst du, welchen Strampler sollen wir heute dem Baby anziehen? Das Baby weint – meinst du, es hat Hunger?»
- Haben Sie keine Angst davor, ihre Freude am Baby zu zeigen – das fördert nicht die Eifersucht, sondern wirkt längerfristig auf die Älteren ansteckend.
- Vergleichen Sie Ihre Kinder nicht miteinander und vor allem: Spielen Sie sie nicht gegeneinander aus («Deine Schwester hilft mir aber immer beim Tischdecken …»)
- Bleiben Sie bei Streitigkeiten so weit es geht neutral. Hinterfragen Sie kritisch, ob das kleine Unschuldslamm wirklich immer so unschuldig ist.
- Verlangen Sie nicht, dass ein Kind sich dem anderen unterordnet, selbst dann nicht, wenn eines ein paar Jahre älter ist. («Du machst, was Clarissa dir sagt.»)