
Daniel Kellenberger
Kurzinterview
Zweisprachige Kinder kommunizieren anders
Kinder, die bilingual aufwachsen, haben viele Vorteile. Einer davon: Sie beobachten genauer. Ein Gespräch mit der Entwicklungspsychologin Stephanie Wermelinger über Gesten, Wortschatz und Kosenamen.
Frau Wermelinger, mehr als jedes dritte Kind in der Schweiz wächst zweisprachig auf. Entweder wird daheim eine andere Sprache als etwa in der Schule gesprochen oder die beiden Elternteile sprechen jeweils unterschiedliche Sprachen. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil fürs Kind?
In den meisten Fällen ist es ein Vorteil, denn zwei Sprachen so gut zu beherrschen wie die Muttersprache, ist einfach supercool. Früher hat man mal gesagt, die mehrsprachigen Kinder würden durch die verschiedenen Sprachen verwirrt und hätten einen kleineren Wortschatz.
Und? Stimmt das?
Vor allem gilt das mit dem kleineren Wortschatz pro Sprache. Nimmt man beide Sprachen zusammen, ist ihr Wortschatz grösser. Durch unsere neuen Forschungen, die wir hier am Institut durchgeführt haben, wissen wir, dass die Bilingualen Kompetenzen haben, die über Sprechen und Wortschatz hinausgehen.
Was für Kompetenzen sind das?
Zweisprachig aufwachsende Kinder kommunizieren anders als einsprachig aufwachsende. Sie nutzen verschiedene Kommunikationskanäle effizienter. Einige Studien zeigen, dass mehrsprachige Kinder beispielsweise mehr Gesten nutzen. Die Mimik spielt bei ihnen eine grössere Rolle und sie reagieren auch sensitiver auf nonverbale Signale des Gegenübers, beobachten also insgesamt besser. Diese Kinder sind in gewisser Weise empathischer und verstehen, dass es zum Begreifen dessen, was andere sagen, mehr braucht als nur Wörter. Bilinguale beziehen die Gesamtsituation des Gesprächs stärker mit ein.
Wie haben Sie das herausgefunden?
Durch Untersuchungen von Kindern im Kindergartenalter. Die zweisprachigen Mädchen und Jungen wechselten häufiger ihre Kommunikationsstrategie und beschrieben ausführlicher. Vielleicht, weil sie selbst die Erfahrung gemacht hatten, dass das Verständnis steigt, wenn das Gesagte auf unterschiedliche Art präsentiert wird. Die Bandbreite des Verhaltens ist allerdings riesig.
Zweisprachigkeit hat also viele Vorteile. Ist das gleichzeitig ein Plädoyer für Früh-Englisch und Früh-Französisch?
Nein. Grosse Teile der Sprachentwicklung sind bereits mit vier Jahren abgeschlossen. Ein paar Stunden Früh-Englisch und Früh-Französisch in der Woche haben keinen nachhaltigen Effekt. Diese «Früh-Lern»- Kinder sind später auf dem gleichen Level wie Kinder, die die Sprache erst etwa mit zehn Jahren lernen. Die älteren Kinder haben nämlich den Vorteil, die Grammatik einer Sprache intellektuell auf einem abstrakteren Niveau begreifen zu können.
Und wie sieht es aus, wenn ich etwa eine Fremdsprache gut beherrsche und mit meinem Kind nur in dieser Sprache statt in der Muttersprache spreche?
Ich finde das eher sonderbar. Eine Sprache besteht doch aus mehr als nur aus Vokabeln und Grammatik. Wie soll man denn authentisch in einer Fremdsprache «süsses Schätzchen» zu seinem Baby sagen können? Eine Sprache beinhaltet auch Geschichten, Gefühle, Lieder. Wie sich all das entwicklungspsychologisch niederschlägt, das müssen wir noch erforschen. Es gibt da viel Spannendes, worüber wir bislang nicht viel wissen.