Vaterzeit
Was bleibt?
Unser Autor Christian wird zu Beginn der Sommerferien pathetisch und fragt sich: Mag Luule das unstete Leben ihrer Eltern überhaupt?
Ich sollte beim Packen von Luules Koffer für die Ferien helfen, die Frage beantworten, ob die rot-weisse Windjacke ok sei, frage mich selber aber dauernd: Was bleibt? Genauer: Was bleibt Luule von den allerersten Jahren? Anders gefragt: Braucht es überhaupt alle diese Bemühungen, Luules Leben schöner zu machen?
Ich meine nicht diese Art von Tätigkeiten, ihr Geschichten vorzulesen, wo sie ja noch nicht mal einem Bilderbuch folgen kann. Ich meine auch nicht die verwegene Tat, sie im Alter von zehn Monaten in Ernen in ein «richtiges» Konzert mitzunehmen und gemeinsam Streichquartette von Beethoven zu hören. Aber natürlich wird die Aneinanderreihung solcher Herausforderungen dazu führen, dass für Luule die Gymi-Prüfung einst ein Kinderspiel sein wird. So wie bei mir, der ein halbes Jahr vor den Maturaprüfungen den berüchtigten «Mg»-Brief nach Hause bekam ... : «Matur gefährdet».
Ich meine die «Was bleibt»-Frage beim Kofferpacken anders. Es geht darum, ob etwas von all den Reisen bleibt, die Tea und ich mit Luule unternehmen. Luule ist nämlich ein Reisefüdli ! Jedenfalls sagen wir das so und wissen : Sie ist es nicht, sondern Tea und ich sind es. Obwohl Luule in den letzten 20 Monaten beneidenswert gut darin war, allerhand aus unserem Leben zu tilgen, konnte sie nicht verhindern, dass wir nach wie vor dauernd reisen.
Mein Geburtstag kommt ? Fahren wir doch drei Tage nach Bologna ! Morgen gehts in die Sommerferien ? Schön, aber was machen wir eigentlich Ende September nach den Sommerfestivals ! ?
Nasenbohren in der Scala
Da wir so ticken, hatte Luule im Alter von zwei Monaten einen Pass und erhielt mit 18 Monaten ihren ersten, von allen Gastroführern hochgelobten Bologneser Ragù, sah in Malta und Neapel ihre ersten zwei Caravaggios – ok, in Malta schlief sie in der Kathedrale gerade ein. Sie war aber als estnisch-schweizerische Doppelbürgerin naturgemäss schon einige Wochen in Tallinn und Tartu, als eine «Berzins» viele Tage im lettischen Riga. Neben Bologna und Neapel sah sie auch das Grabtuch in Turin, die originale italienische Tricolore in Reggio Emilia, liebte die Tortellini in Parma und sah das Meer in Sorrent. Und vor Kurzem nahm ich sie bei einer Premiere bis hinein ins Foyer der Mailänder Scala mit. Dabei bohrte sie in der Nase.
Egal. Die Fahrten ins Tirol, nach Leukerbad oder Pontresina hatten dagegen keine Chance. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir zu Luules Ur-Onkel nach Seattle fliegen. Bei all unserem Zug-Fanatismus: Flughafen können wir spielend, ja, im Kinderspielraum in Zürich beginnt jeweils das Feriengefühl: Tea trifft die ersten Esten und Luule hebt schon mal im Holzflieger ab.
Ich packe Luules Gabel und Tellerchen ein und frage nochmals: «Was bleibt ?» Und muss an einen Bekannten denken. Als seine Kinder drei, vier Jahre alt waren, fuhr er jeweils zwei Stunden lang im Gaggo herum, sass ein wenig im Stau auf der Autobahn vor Basel, überquerte dann den Rhein und fuhr in den sehr nahegelegenen Schwarzwald, wo sie jeweils eine glückliche Woche in einem Hotel mit Swimmingpool hatten. Jetzt, mit 11 und 13, haben die zwei Kinder in den Cinque Terre erstmals das Meer gesehen und waren geradezu euphorisiert. Geflogen sind sie noch nie. Auch ich tat das erst mit 16. Das war das Alter, als ich das Meer zum ersten Mal sah.
Luule flog mit 4 Monaten und badete mit 12 Monaten in Marsaxlokk im Meer. Auch wenn sie sich mit 12 Jahren nicht daran erinnern wird, ob das Wasser dort warm war, wird sie vielleicht gemerkt haben, dass Tea und ich viel Spass hatten.
Die Kleider und Badesachen für unsere Zeit in Pärnu im Koffer sehend, merke ich, dass der dritte Satz im ersten Abschnitt nicht «alle Bemühungen, um Luules Leben schöner zu machen», sondern «alle Bemühungen, um unser Leben schöner zu machen» hätte heissen sollen. Aber wenn Teas und mein Leben schöner ist, dann ist es jenes von Luule bestimmt auch. Das bleibt.