Alzheimer
Vergiss mich nicht
Von Katrin Seyfert
Als bei Katrin Seyferts Mann Alzheimer diagnostiziert wird, sind ihre Kinder zehn, acht und sechs Jahre alt. In ihrem Buch «Lückenleben» schildert sie die fünf Jahre bis zu seinem Tod. Ein Auszug:
Mein Mädchen war acht, als sie ihren Vater verlor. Ihren Helden, ihren Alles-Könner, ihren Atlas. Als mein Mann noch gesund war, konnte er giftige Schwäne vertreiben, die ihr zu nahe kamen, sie vor Rotzlöffeln und Sandschmeissern bewahren und ihr erklären, wie die Welt funktioniert: kundig, angstfrei und immer mit genau der richtigen Prise bösartigem Humor, sodass das Leben nicht zu glatt und zu perfekt wurde. Er ritt mit ihr in Thailand auf Elefanten, auf Kuba vermöbelte er im Schach einen alten Kubaner, und als sie mit sechs Jahren beschloss: «Ihr seid blöde, hier schlafe ich nicht mehr », da hatte er ihr (und ihren Brüdern) längst das perfekte Baumhaus im Garten gezimmert, sodass der frühe Autarkieversuch ein jähes, aber romantisches Ende an der Buchsbaumhecke fand.
Mein Mädchen war für ihren Vater, meinen Mann, der schon vier Jungen gezeugt hatte (zwei Söhne stammen aus seiner ersten Ehe), das sanfte Glück seiner späten Vaterschaft. Wenn sie auf seinem Arm sass, wirkte sie wie mit ihm verwachsen. Die beiden bildeten vom ersten Tag an ein unerschütterliches Duo. Es schien, als wollte er die neun Monate Beziehungsvorsprung, die ich hatte, um jeden Preis aufolen. Es gelang ihm acht Jahre lang herausragend.
Dann musste sie lernen, ihren Vater mit einem bösen Hexer zu teilen: dem Alzheimer.
Der tolle Papa
In den ersten Jahren merkte sie noch nicht viel, da freute sie sich nur, wenn sie mit ihrem feuerroten Schulranzen nach Hause gehüpft kam und ihr Vater das Mittagessen bereitet hatte – arbeiten durfte er als Arzt nicht mehr. Aber kochen, den Hund Gassi führen und die Nerven beim Lernwörterlernen behalten – das konnte er. Und wenn sie sich das Knie aufgeschlagen hatte, dann schaute er sich das mit grosser Ernsthaftigkeit und Sorgfalt an, so als handelte es sich um einen schwerwiegenden Casus, der unbedingte PrivatpatientenKonsultation verlangte.
Seine Sprechstunde war für sie 24 Stunden, an sieben Tagen in der Woche geöffnet, ohne Wartezeit. Während ich die Rolle der profanen, aber entrückt-heroischen «Alles-Wupperin» einnahm – Haushalt, Geld verdienen, Arztbesuche, Pflegedienst –, verwandelte er sich für sie mehr und mehr in ein behagliches Sofakissen: Er gab Halt, wenn sie sich auf einen Stuhl setzte, für den sie eigentlich noch zu klein war, stand als Kuschelobjekt zur Verfügung und wurde so vertraut, dass auch ein Krankheitsschub ihn ihr nicht entfremden konnte.
Was Marc auch widerfuhr: Falsche Kekse kaufen, mit Leine, aber ohne Hund wiederkommen, den Weg zum Kühlschrank nicht finden oder «Mensch ärgere dich nicht» ohne Rausschmeisser-Regel spielen – mein Mädchen hatte von uns allen am meisten Mitgefühl. « Da kann doch Papa nichts dafür, das ist sein Alzheimer», sagte sie oft. Es klang dissoziiert, wie abgespalten: Hier war der tolle Papa, der, den sie vom ersten Tag ihrer Existenz an kannte und liebte, dort der böse Hexer. Sie packte ihre kindliche Trauer in ein Kleid aus Weichheit, Pragmatismus und Mütterlichkeit.
War ich niedergeschlagen, strich sie mir über den Kopf, so wie das Fünfzigerjahre-Muttis tun, dann ging sie nach oben in ihr Zimmer und schloss sich ein. Damit ihr Vater das Zimmer nicht mit der Toilette verwechselte, erzählte sie uns. «Damit du uns nicht noch mehr Kummer mit deiner Trauer machst», dachte ich. Mich beschämte ihre parentifizierte, erwachsene Kümmererrolle. Ich konnte sie nicht auflösen. Die Buntwäsche drohte, der Rentenbescheid mahnte, das Krankenhaus quengelte. Ach, und zwei andere Kinder hatte ich auch noch. Und einen kranken Mann. Einen Hund. Einen Haushalt. Einen Beruf. Eine Überforderung.
Das Haus, in dem Papa tanzte
Von allen Menschen, die mir bei der Bewältigung der Krankheit meines Mannes geholfen haben, habe ich mich an meiner Tochter am meisten versündigt. Fürchte ich. Sie sieht das – pubertätsbedingt – anders. An dieser Stelle: kindlich-mütterliches Unterarmstreicheln. Es ist die liebevollste Rebellion meines Lebens. Der Alzheimer mag das Hirn ihres Vaters ausgelöscht haben, ihres verteidigt sie, als wäre es aus Gold. Keine einzige Erinnerung darf getilgt werden, das hat sie ihrem Vater wahrscheinlich lippenstumm geschworen.
Beim letzten Besuch, den sie bei ihm im Heim machte, filmte sie ihn, so wie das Millionen andere Töchter auch tun. Marc tanzte mit mir auf der Heimterrasse. «Papa, hast du Mama lieb ?», fragte sie in das Filmchen. «Ganz doll. Ganz doll», gab der alte Kauzbär zur Antwort. Es sind die letzten bewegten Bilder, die ich von meinem Mann habe. Sie sind mir mehr wert als meine Milz, mein Haus, meine Achtung.
Mein Mann, mein Leben, seit sechs Wochen in einer geschützten Einrichtung, erzählt meiner Tochter, wie sehr er mich liebt. Und tanzt dabei ! Es war so ein ungewöhnlicher Anblick, ihn, den alten Westfalen und Hobbyangler, tanzen zu sehen, dass ich unauffällig alle meine drei Kinder dazu drängte, ihn einmal so zu erleben. Damit das Heim nicht zu einem Nicht-Ort wurde. Einen, den man aus seinem Gedächtnis streichen muss. Fahren wir heute durch diese Strasse, sagt meine Tochter oft: «Hier ist das Haus, in dem Papa immer tanzte.» Immer. Tanzte. Ich liebe sie für jede dieser unzulänglichen Verallgemeinerungen.
Zuviele Ängste, zuviel Trauer
An dem Tag, an dem Marc starb, sah ich meinen jüngeren Sohn nicht, er verbarrikadierte sich in seinem Zimmer, der ältere weinte leise männliche Tränen um seinen Vater. Meine Tochter hielt die Stellung. Sie war zu jedem, der erschrocken in unser Haus eilte, freundlich, verbindlich, zuversichtlich.
Es nahm mir die Luft. Dass jemand sich aggressiv verweigert oder tränenreich trauert, kann man ertragen – keinen Umstand zu machen, ist viel schlimmer. Jungen trauern aktiv, Mädchen passiver – so unterscheidet die Psychologie das gendertypische Trauerverhalten. In ICD-Codes zusammengefasst: Mädchen entwickeln von zu viel Trauer Ängste und Depressionen, Jungs werden aggressiv.
Fachleute finden, dass Mädchen generell adäquater mit ihren Gefühlen haushalten können. Aber nennt man das auch adäquat, wenn man von aussen gar nichts sieht ?
Wann tut sie es endlich?
Mein Mädchen verbirgt ihr Leiden unter einer Rüstung aus Anstand, Unsichtbarkeit und Contenance. Königin Elizabeth II. wäre stolz auf sie gewesen. Warum bricht sie nicht zusammen ? Beziehungsweise: Wann tut sie es endlich ? Wann fängt sie an, mich für meine Leistungsfähigkeit zu verachten ? Aus Selbstschutz, aus Selbstfürsorge. Damit wäre sie längst nicht mehr allein.
Viele Mädchen verweigern sich heute ihren überoptimierten Müttern, die nicht mehr können, aber leisten, als gebe es später dafür Fleisskärtchen im Himmel.
«Mütter geben alles. Mütter sind erschöpft. Mütter haben Schuldgefühle», schreibt der Hamburger Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor Michael Schulte-Markwort, und beschreibt damit einen neuen Typus Mädchen, der sich dem Ideal der Mütter – Karriere, Haushalt, Kinder, Pilates – konsequent entzieht. Diese mutlosen Mädchen (so der gleichnamige Buchtitel) «fürchten ein Scheitern. Unter den Augen der bewundernswerten Mutter zu scheitern, ist für sie nicht auszuhalten. Sie möchten ihren Müttern nicht nacheifern.»
Ich könnte verstehen, wenn mein Mädchen nicht so werden will wie ich. Als Vorbild bin ich die Pest. Erfolgreich, kreativ, vernetzt, stabil. Ich könnte über mich selbst speien. Nur leider hilft das nicht viel. Die Buntwäsche wird davon nur mehr.
«In dieser Konstellation ist es für Ihre Tochter schwerer zu trauern als für ihre Brüder», sagt mir Schulte-Markwort, « der ödipale König fehlt. Das Objekt der Anziehung.»
Kümmert euch um sie
Dem «Objekt der Anziehung» hätte gefallen, wenn ihn ein Kollege als König tituliert hätte, wenn auch nur als einen ödipalen. Er wusste um den lebenslangen Verlust, den er unserem Mädchen würde zufügen müssen. Er war zu sehr Arzt, als dass er das hätte ignorieren können. Meine Söhne versuchen heute mit aller kindlichen Kraft die Leerstelle zu füllen, die ihr Vater hinterlassen hat. Er hinterliess auch einen unausgesprochenen Wunsch: «Kümmert euch um eure Schwester.» Als ich sie wenige Tage nach seinem Tod zur Bestatterin schickte, kamen sie mit einem Hamster für ihre Schwester zurück. «Mama, sie hat es doch jetzt auch nicht so leicht. Und Papa hätte der Hamster gefallen.»
Papa hätte es so gewollt. Aus diesen fünf Wörtern formt sich im Laufe der Monate ein unsichtbarer Geist, der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Und wir tun viel, um diesen Geist nie wieder des Hauses zu verweisen.
Wir schauen Dr. House, so wie es Marc früher gern und oft tat. Wir kochen manchmal rein aus Nostalgie Leberkäse mit Kartoffelpüree und Sauerkraut. Wir freuen uns sogar, wenn der Hund mit zwei Halsbändern hereinkommt. Oder auf dem Klo ein Marmeladenglas steht, einfach so. Oder wenn jemand die Milchpackung aufschneidet, obwohl sie einen Drehverschluss hat. Einfach weil es uns an Marc und die Alzheimerjahre erinnert.
Von Papa gelernt
Selbst den schlimmsten Schlager der Welt, «Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen», lernen die Jungs auswendig, weil sie wissen, dass er Energien erzeugt, die Marc, wo immer er jetzt sein mag, erreichen und erfreuen. Wir verwachsen durch das gemeinsame Erinnern zu einem Körper, auch wenn jeder von uns seine eigenen Wege geht. Verrückt. Ich habe drei Kinder in der Pubertät und erfreue mich ihres Wachstums, ihrer Vulgarität, ihres Phlegmas, ihrer Schönheit. Weil ich weiss, dass sich auch Marc dessen erfreut hätte. Weil ich weiss, wie machbar alles ist, jetzt, nach all den Jahren. Weil ich in jedem Wimpernschlag, in jeder Bewegung, in jedem Rülpser eine Hinterlassenschaft meines Mannes entdecke.
Mein Mädchen ergänzt: «Ich habe von Papa gelernt, wie man mit Tieren umgeht, wie man den Fotoapparat hält, ohne dass er runterfällt, und wie man Mitgefühl vermehrt, wenn man viel davon braucht.» Ich denke an ihr Sich-Einschliessen in das Zimmer, an das Einigeln, sich mit lauter Problemlosigkeit unsichtbar machen, an die mutlosen Mädchen, an meine Angst, dass sie sich übernimmt. Sie mopst sich ein Stück meiner Schokolade vom Tisch. «Schau, wenn ich mir jetzt Schoki nehme, dann ist das Mitgefühl für mich selbst. Dann müssen es andere nicht tun.» Ich gebe ihr den Rest Schokolade mit – zum heimlichen Essen in ihrem Zimmer. «Damit du nie verlernst, auch an dich zu denken, wenn es anderen schlecht geht.»
« Och, Baby », sie hat wieder diesen Doris-Day-Mutti-Ton. Und dann wird sie pragmatisch: «Die wird aber nicht lange halten, Mama. Wollen wir noch eine kaufen ?»
Das wäre eigentlich Aufgabe des ödipalen Königs. Jetzt muss sie für sich selbst sorgen.
Katrin Seyfert, 53, ist das Pseudonym einer freien Journalistin. Sie schreibt für zahlreiche deutsche Zeitungen und Zeitschriften. In den Texten, die sie seit fünf Jahren über die Erkrankung ihres Mannes veröffentlicht – und auch fürs Buch – wählt sie deshalb einen anderen Namen, weil die Perspektive der Witwe nur einen Teil ihres Schreibens bestimmt.
Katrin Seyfert «Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich». DVA, Fr.30.50