Binationale Familie
Der Vater erzählt nichts über seine Flucht
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Wer in einer bikulturellen Familie aufwächst, hat selbst zwei Kulturen in sich. Der 21-jährige Sebastian kannte allerdings seine zweite Heimat nicht. Hier erzählt er von Unausgesprochenem und von der Suche nach seinen Wurzeln.
Sebastian ist 21, seine Mutter ist Schweizerin, der Vater Kurde. Sebastian studiert an der Uni Zürich Politologie und Publizistik. Er erzählt:
«Als Kind habe ich mir einen Vater gewünscht, wie ihn Schweizer Nachbarskinder hatten: Einer, der jeden Abend zu Hause ist, der mit mir Fussball spielt, bastelt oder über dem Feuer Schlangenbrot röstet.
Mir war immer klar, dass ich nicht nur Schweizer bin. Doch da, wo ich wohne, leben Ausländer, Binationale, Schweizer – und alle spielten wir miteinander. Mit 12 ging ich ins Gymnasium, dort kamen die meisten Kinder vom Zürichberg und von der Goldküste und plötzlich wurde ich gefragt: Woher kommst du?
Ich hasste diese Frage! Und entwickelte ein mega kurdisches Bewusstsein. Gleichzeitig legte ich mir ein Narrativ zurecht: Ich, der Halb-Ausländer aus dem Kreis 5, zeige es denen! Ich machte es zu meinem Sport, mir ein gutes Vokabular anzueignen, einen Satz noch eloquenter, noch hochgestochener zu formulieren. Das war brutal anstrengend und eine Last, aber ich sagte mir, wenn es dir gelingt, fühlst du dich respektiert.
Mein Vater ist 1994 als kurdischer Flüchtling in die Schweiz gekommen und seither nie wieder in seine Heimat gereist. Unser Vater-Sohn-Verhältnis wurde geprägt durch Sachen, die zurückgehalten und nicht erzählt worden sind. Als mir das klar wurde, entschied ich mich, mein Maturprojekt der Spurensuche zu widmen und reiste mit 17 in die Türkei, das erste Mal in meinem Leben.
Mein Vater wollte nicht, dass ich gehe, hielt mich aber auch nicht zurück. Zwei Cousins, die perfekt Englisch sprechen und für mich übersetzten, begleiteten mich von Istanbul nach Ardahan im Nordosten der Türkei, dem Geburtsort meines Vaters. Dort wurde sozusagen der rote Teppich für mich ausgerollt. Alle wollten mich sehen, ich lernte jede Menge Verwandte kennen und fühlte mich endlich am richtigen Ort.
Alte Weggefährten meines Vaters sagten zu mir, er sei «ein Tapferer» gewesen und gaben mir Grüsse für ihn mit; ich verstand nun, wieso er im Café und bei der kurdischen Diaspora in Zürich so angesehen ist und so viele Leute kennt.
Als wir nach vier Tagen wieder ins Auto stiegen und abreisten, erlebte ich eine Eruption von Gefühlen. Ich hätte so sehr weinen können, es war, als würde etwas weggerissen von mir. Wegen meiner Cousins nahm ich mich zusammen; ich dachte, dort gilt noch mehr als in der Schweiz, dass ein Mann nicht weint. Heute bin ich reifer und würde es einfach zulassen. Wieso soll weinen unmännlich sein? Im Gegenteil, es braucht Mut, Gefühle zu zeigen.
In Ardahan hatte ich eine Videobotschaft von meiner Grossmutter für meinen Vater aufgenommen. Zurück in Zürich zeigte ich sie meinem Vater; er musste sich mega zusammenreissen, denn er hat seine Mutter seit 30 Jahren nicht mehr gesehen. Um drei Uhr nachts, als ich aufstand, um aufs WC zu gehen, sass er wieder vor dem Computer und schaute das Video mit seiner Mutter an.
Heute will ich keinen Schweizer Vater mehr. Seit ich in Ardahan war, geht es mir gut. Manches, was mich früher wütend gemacht hat, verstehe ich heute; ich habe mit meiner Herkunft Frieden geschlossen. Mein Vater hat die Dokumentation über meine Reise gelesen, aber darüber gesprochen haben wir nie. Es liegt auch an mir, ich wich aus, hätte keine Kritik von ihm ertragen an dieser Arbeit. Aber ich habe einen Schritt gemacht und im Moment ist es gut, wie es ist. Mein grösster Wunsch wäre, mit meinem Vater in die Türkei zu fahren, das wäre weisch wie geil!»
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