
Daniel Auf der Mauer
Schicksal / Paarleben
Todkrankes Kind: Wie bewältigen Familien schwerste Krisen?
Von Michael Hugentobler Fotos Daniel Auf der Mauer
Ein Paar erfährt von der schweren Krankheit eines Kindes. Wie können Frau und Mann diese grosse Krise bewältigen, ohne einander im Stress des Alltags aus den Augen zu verlieren?
Später würde Mirco Michel sagen, es sei gewesen, als hätte ihm jemand ein Brett mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Aber noch lag dieser Tag 48 Stunden in der Zukunft, noch verlief das Leben in geregelten Bahnen, als an einem Dienstag im Februar 2014 am Nachmittag das Handy seiner Ehefrau klingelte. Angelika Michel schob ihre Tochter Milena gerade im Kinderwagen zur Bushaltestelle und wurde von einer Ärztin des Kantonsspitals Chur zu einem Termin am folgenden Donnerstag gebeten. Mit dem Donnerstag kam die Diagnose: Das Kind hat eine seltene Form von Muskeldystrophie, eine Krankheit, bei der der Körper die Muskeln nur beschränkt aufbaut, was in vielen Fällen zu einem frühen Tod führt.
Heute sitzen Angelika und Mirco Michel an ihrem Wohnzimmertisch in einem Wohnblock ausserhalb von Landquart. Tochter Milena sitzt in einem Tripp Trapp oben am Tisch, ihr Bruder Julian neben seiner Mutter. Beide Kinder haben Schienen an den Beinen, selbstständig laufen können sie noch nicht, obwohl sie bereits fünf und drei Jahre alt sind. Im Moment der Diagnose war Angelika Michel mit Julian im neunten Monat schwanger. «Ich sass da mit meinem dicken Bauch und dachte: Hat er es auch?», sagt sie. Kurz nach der Geburt fiel den Eltern auf, dass bei ihm ebenfalls die Körperspannung fehlt, die bei Kindern mit Muskeldystrophie typisch ist. Anders als bei Milena wurde das Problem nicht während zweier Jahre mit der Tatsache begründet, dass das Kind halt eine Frühgeburt sei und die Dinge nun mal länger dauern könnten. Sofort war klar: Beide Kinder sind krank.
Paarpsychologen sprechen im Fall der Familie Michel von Makro-Stress. Das sind die einschneidenden Ereignisse im Leben eines Paars, etwa Untreue, Bankrott eines Partners oder eben die Diagnose einer schweren Krankheit beim gemeinsamen Kind. Die andere Art von Stress ist der Mikro-Stress, der ausgelöst wird, wenn man etwa vom Chef einen Rüffel bekommt, oder wenn mal wieder mitten im Winter die Heizung aussteigt – der Mikro-Stress ist immer zerrüttend und frisst sich in jede Beziehung wie Karies in die Zähne. Der Makro-Stress hingegen ist wie ein Gerichtsurteil, bei dem nur zwischen Niederlage oder Erfolg unterschieden wird: Entweder zerbricht die Beziehung für immer, oder es entsteht eine Verbindung, die stärker ist, als sie es jemals zuvor war. Angelika und Mirco Michel werden in den folgenden Jahren am Stress wachsen, obwohl sie das zu Beginn nur ahnen konnten.

Das erste Jahr überstehen
Es gibt eine unübersichtliche Anzahl von Studien, die die Paarbeziehung von Eltern mit kranken Kindern untersucht haben. Seltsamerweise gibt es aber keinerlei Ratgeber zu diesem Thema. Seltsam deshalb, weil allein von den seltenen Krankheiten, zu denen auch die Muskeldystrophie gehört, allein in der Schweiz schon 350 000 Kinder und Jugendliche betroffen sind, und somit auch deren Eltern.
Aus amerikanischen Studien weiss man, dass bis zu zwei Drittel dieser Paare unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, wie das etwa auch bei Soldaten der Fall ist, die aus Militäreinsätzen in Kriegsgebieten zurückkehren. Dabei scheint es kaum eine Rolle zu spielen, ob es sich bei der Krankheit um eine tödliche Bedrohung handelt, gegen die es kaum Medikamente gibt, oder um eine chronische Erkrankung wie etwa Diabetes. Eine Übersichtsstudie bemängelte vor einigen Jahren, der Fokus liege zu sehr auf den individuellen Reaktionen des Mannes oder der Frau und zu wenig auf dem Paar. Die Autoren dieser Studie beobachteten, dass die grössten Paarprobleme in den ersten vier Monaten nach der Diagnose entstehen und während einem Jahr anhalten. Übersteht ein Paar dieses Jahr, treten danach die positiven Veränderungen ein. Diese Paare konnten in jenem Moment das Unglück in eine Stärke verwandeln, als sie erkannten, dass sich das Funktionieren ihrer Beziehung positiv auf das Kind auswirkt.
Viel reden, viel zutrauen
Dazu gehört, dass man am selben Strick zieht. Angelika Michel sagt, sie sei stets ein schüchterner Mensch gewesen und habe sich nicht viel zugetraut. «Und dann musste ich von einem Tag auf den anderen die Initiative ergreifen.» Ihr Ehemann arbeitet Vollzeit und somit fällte sie die Entscheidungen im Spital gewissermassen auch für ihn. «Er hat mich dazu ermuntert: Als Paar zu bestimmen, auch wenn er nicht da war», sagt sie. Und er: «Wir reden viel, wir diskutieren im Voraus jede Situation durch, und mittlerweile reicht manchmal schon ein Blick und wir wissen, dass wir uns einig sind.»
Dass das Reden für eine Beziehung so wichtig ist wie der Sex oder das finanzielle Überleben, ist klar. Allerdings gibt es verschiedene Arten des Redens und Zuhörens. Der amerikanische Psychologieprofessor John Gottman betreibt an der University of Washington in Seattle sein «Love Lab», eine Wohnung mit Seeblick, wo Paare einziehen und der Professor sie über Kameras beobachtet. Gottmans Fazit nach über 40 Jahren Forschung: Die Zeit, in der wir während einem Gespräch den Worten unseres Partners volle Aufmerksamkeit widmen, beträgt neun Prozent. Das heisst, 91 Prozent der Zeit denken wir über Einkaufslisten, Abstimmungsvorlagen und Fussball nach, obwohl man uns doch etwas Wichtiges mitteilen möchte. Wenn Partner, die sich mit Mikro-Stress auseinandersetzen, einander so wenig Aufmerksamkeit schenken, endet das in Frust und Streit. Bei Makro-Stress-Partnern mit kranken Kindern hingegen kann dies Fehlentscheidungen bedeuten, die einen direkten Einfluss auf das Kind haben.
Für Mirco und Angelika Michel heisst das, dass sie einander nicht nur wirklich zuhören müssen, sondern dass sie auch über ein Thema sprechen, über das sich viele Paare nicht einmal nachzudenken trauen: den Tod der Kinder. «Natürlich reden wir darüber», sagt Angelika Michel, «Mirco ist da allerdings ein wenig verschlossen.» Er sagt: «Ich bin auch nicht den ganzen Tag mit dem Schicksal der Kinder konfrontiert, und deshalb halte ich mich an der Hoffnung fest, dass auch meine Kinder 30 oder sogar 40 Jahre alt werden können, wenn wir uns richtig um sie kümmern.»

Als Eltern Teil der Krankheit
Und zu wem gehen sie, wenn sie am Verzweifeln sind? «Zueinander», sagen sie gleichzeitig. Sie seien ein Teil dieser Krankheit, nur sie könnten die Situation wirklich nachvollziehen und einander den Rücken stärken. In der Fachliteratur nennt man das «we-disease», also Wir-Krankheit: Wenn eine Familie die Krankheit eines Kindes als eine Tatsache versteht, von der alle Familienmitglieder betroffen sind, auch wenn die Krankheit nicht bei allen ausbricht. Das Konzept gesteht nicht nur dem Kranken seine Ängste und Unsicherheiten zu, sondern auch dem Gesunden, und sieht sie als Einheit.
Der Schweizer Professor Guy Bodenmann, der international zu den führenden Experten im Bereich Stress und Partnerschaft gehört, führt derzeit eine Studie durch, in der Eltern mit krebskranken Kindern in Bezug auf die Wir-Krankheit untersucht werden. In seinem Lehrbuch über Klinische Paar- und Familienpsychologie schreibt Bodenmann, wenn sich Partner gemeinsam verantwortlich sähen, führe dies zu einem ausgewogeneren Zustand – es komme zu einem Geben und Nehmen im Gleichtakt.
Für Mirco Michel bedeutet dies auch, dass er sich, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, nicht vor den Fernseher legt. Er kümmert sich um Lösungen für kleinere und grössere Probleme. Er schraubt etwa einen riesigen Karabiner in die Decke, um ein Gummiseil zu befestigen, an dem seine Kinder auf und ab hüpfen können, damit ihre Beinmuskeln trainiert werden. Und wenn ein Kind nach einer Operation an den Hüften bis zu den Zehen eingegipst heim kommt, nimmt er die Stichsäge zur Hand, schneidet eine Holzplatte zurecht und baut den Kinderwagen auf eine Weise um, dass das Kind trotz Gips an die frische Luft kann.
Drei Jahre ist es nun her, seit die erste Diagnose kam. Mittlerweile sind Angelika und Mirco Michel so weit, dass sie ihre Kinder auch einmal über Nacht zu den Grosseltern bringen können. Und dann tun sie, was jedes Paar tut, oder zumindest tun sollte: Sie nehmen sich Zeit füreinander, gehen Pizza essen, gehen zum Chinesen, erholen sich für wenige Stunden von der Rundumbetreuung.
Am Wohnzimmertisch der Familie Michel ist es Abend geworden, die Kinder sitzen vor Tellern, auf denen Ravioli dampfen. Julian kann die Gabel noch nicht selber heben, da seine Arme zu schwach sind, Milena schafft den halben Teller selbstständig. Mirco Michel hilft der Tochter, Angelika Michel dem Sohn. Mirco sagt: «Es ist klar: gemeinsam kämpft man besser.» Angelika sagt: «Am Anfang sind es kleine Hürden, die wir überwinden müssen, irgendwann kleine Hügel und schliesslich einmal hohe Berge – ich hoffe, dass wir einander dann auch nicht allein lassen.»
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