Shania sitzt auf ihrem Schaumstoffsesselchen im Kinderzimmer und sticht mit einer Nadel in die erbsengrosse Blase an ihrem Fuss. Routiniert wie eine kleine Krankenschwester tupft sie das blutige Wundwasser ab und reicht das Taschentuch ihrer Mutter. Karin Schmutz (37) kniet neben ihrer Tochter auf dem Boden, streicht kühlende Salbe auf weiche, moderne Wundauflagen und verbindet die offenen Stellen an den Füssen, Beinen, Armen und Rücken. Behutsam und konzentriert arbeiten sich die beiden durch den Verbandswechsel. Jeden Morgen. Aufstechen, tupfen, salben, verbinden. Aufstechen, tupfen, salben ... eine Sisyphusarbeit: Sie hört niemals auf.
Shanias Haut ist fein wie Seidenpapier und verletzbar wie die Flügel eines Schmetterlings. Wegen eines vererbten Proteinmangels haften die Hautschichten nur ungenügend aneinander, es fehlt sozusagen der Leim zwischen Ober- und Lederhaut, zwischen Fettgewebe und Basalmembran. Schon bei falscher Berührung oder geringstem Druck bilden sich Blasen und offene Wunden. Fachsprachlich heisst die seltene Erkrankung Epidermolysis bullosa, kurz EB. Betroffene selber nennen sich «Schmetterlingskinder» – ein luftigleichter Name angesichts der schweren Krankheit, die dahinter steckt.
Zuversicht und Verzweiflung
Glücklich gucken Karin und Markus Schmutz (39) am 24. August 2011 um 1.07 Uhr im Spital Münsingen (BE) auf ihr Neugeborenes – Ärmchen, Beinchen, zerknautschtes Köpfchen, alles dran, alles wie es sein muss. Einzig ein kleines Bläschen auf der Oberlippe des Babys irritiert. Nichts aber, weswegen die Eltern nach der anstrengenden Geburt nicht hätten schlafen können. Erst am nächsten Morgen, als Pflegende und Ärzte eine münzgrosse Blase auf dem Handrücken entdecken, schrecken sie auf. Sie überführen Shania ins Inselspital und stecken am kleinen Körper Infusionen, machen Hauttests und verabreichen Antibiotika. Die Eltern werden unvermittelt hineingeworfen in quälende Ungewissheit, treiben über Tage im Wellenschlag von Zuversicht und Verzweiflung. Nach einer Woche hören Karin und Markus erstmals den Zungenbrecher «Epidermolysis bullosa». Man legt ihnen nahe, den Begriff besser nicht zu googlen.
Heute scheint bei Familie Schmutz auf den ersten Blick alles ganz normal: Ein Häuschen bei Zäziwil im Emmental, ein Riesenplanschbecken im Garten, Hello- Kitty-Teppiche in den Mädchenzimmern. Karin Schmutz kümmert sich hauptsächlich um den Haushalt und die Kinder, ihr Mann arbeitet als Polier auf dem Bau. Heute sind alle zu Hause. Auch Markus Schmutz hat sich freigenommen, um vom Alltag zu erzählen, von der Verwundbarkeit und davon, wie es sich hinter der «ganz normalen Fassade » manchmal anfühlt. Dann etwa, wenn Shania – wie gerade gestern wieder – hinfällt. Fallen wir, stützen wir uns instinktiv mit den Händen ab. Meist kommen wir ohne grosse Kratzer davon. Stürzt Shania, schält sich die Haut in ihrem Handteller ab wie die Schale einer gekochten Kartoffel.
Kristin Kernland sitzt im Schulungsraum der Dermatologischen Klinik des Inselspitals, hinter der Ärztin zieren vergilbte Buchbände zu Hauterkrankungen in altdeutscher Schrift die Regale. Jetzt klappt die Dermatologin ihren Laptop auf und zeigt eben jene erschütternden Bilder, vor denen Shanias Eltern gewarnt wurden: Kinder ohne Finger- und Zehennägelchen, Finger, die allmählich verwachsen, verklumpte Hände und Kinderkörper, die aussehen wie verbrüht. Weil die Haut irgendwann erschöpft ist von den steten Wunden und Entzündungen, scheint sie anfälliger für eine aggressive Form von Hautkrebs. Auch wenn Forscher mittlerweile bei Betroffenen Haut verpflanzen, Eiweisse spritzen oder Knochenmark transplantieren – es sind Versuche. Heilbar ist die Krankheit nicht. Die Lebenserwartung liege zwischen 20 und 40 Jahren, sagt Kristin Kernland, die älteste Frau in der Schweiz wurde 49.
Qualvolles Essen
Vielleicht kann man sich an die Melodie des Leids gewöhnen, nicht aber an die Paukenschläge, die der Alltag mit EB bereithält. Etwa damals, als Karin Schmutz bei Shania von Brei zu Hartkost wechselte. Kurze Zeit ging alles gut, dann wollte Shania plötzlich nur noch trinken. Als sie dennoch ein einziges, weichgekochtes Teigwaren-Hörnli kostete, erbrach sie ganze Schleim- und Blutfetzen. Denn der menschliche Körper besteht nicht nur an sichtbaren Stellen aus Haut, Schleimhäute überziehen auch Mundhöhle, Speiseröhre, Lunge, Darm und Harnleiter. Nicht alle inneren Körperstellen sind gleich stark betroffen. Doch wenn Shania heute nach Joghurt statt Birchermüesli oder Spaghetti verlangt, wissen die Eltern, dass aufgeplatzte Bläschen am Gaumen und in der Speiseröhre das Essen für Shania wieder zum Martyrium machen.
Doch heute ist ein guter Tag. «Hmm, Büchsenravioli!» ruft Shania, als Karin Schmutz ihr Lieblingsgericht auf den Teller schöpft. Die Käsewähe für die anderen am Tisch wäre zu gefährlich, der knusprige Teigrand könnte Shania verletzen. Die Hälfte der Ravioli überlässt Shania Cheyenne (6). Denn diese will nun doch auch lieber Ravioli. Meist verstehen sich die Mädchen bestens. Nur bisweilen nervt Cheyenne das Schattendasein, wenn ihre Schwester dauernd im Mittelpunkt zu stehen scheint. Dann klinken sich Karin oder Markus Schmutz aus mit Cheyenne, unternehmen einen Ausflug ganz mit ihr allein. Jetzt aber, nach dem Zmittag, sitzt Cheyenne mit am Tisch und zeichnet konzentriert und auf Vorrat Entchen, Katzen und Blumen auf die elastischen Verbandshandschuhe für Shania. «Papa, machst du mit mir das Rapunzel- Puzzle?», fragt Shania und kuschelt sich mit dem Legespiel an ihren Vater.
Shania ist eines von nur 12 Schmetterlingskindern in der Schweiz, die an derselben schweren Form von EB leiden. Es liegt in der Natur seltener Erkrankungen, dass sich Forschungs- und Wissensstand nur schleppend entwickeln. Auch bei Epidermolysis bullosa. Kristin Kernlands rötlicher Pagenschnitt schwingt mit, als sie auf dem Stuhl nach vorne lehnt und sagt: «Ich selber habe in den letzten Jahren viel dazulernen müssen.» Denn selbst Fachleute können trotz gut gemeintem und aufmerksamem Handling Schaden anrichten bei den kleinen Patienten. Dann etwa, wenn diese sich den Kopf anstossen am Namensschild der Betreuenden und deswegen bleibende Narben davontragen. Kristin Kernland trägt weder eine Namensplakette an ihrem Ärztekittel, noch steckt sie den Kugelschreiber in die Brusttasche, wenn sie sich ihrer verletzbaren Schützlinge annimmt.
Die Ärztin scheint sich mit jeder Faser ihres Körpers für Schmetterlingskinder zu engagieren, sie ist Forscherin und Fürsprecherin zugleich: «Ein EB-Kind will etwas vom Leben – genau wie jedes andere Kind.» Frühere Generationen von EB-Erkrankten hätten schauderhafte Biografien erlebt, sie wurden versteckt oder in Schulen für Körperbehinderte gesteckt. Kernland hilft seit sieben Jahren zusammen mit der Patientenorganisation DEBRA mit, Fachwissen aus Dermatologie und Zahnmedizin, Ernährungsberatung und Gastroenterologie, Physiotherapie und psychosozialer Betreuung landesweit zu bündeln.