Gesellschaft
Konfetti aus Zeit
Warum rast die Zeit so? Weshalb wird sie einem trotzdem manchmal lang? Und warum reicht sie fast nie? Gedanken zum Jahreswechsel, in denen Schnipsel eine Rolle spielen.
An Heiligabend, spätestens aber zum Jahreswechsel, neigen Menschen schon mal zur Melancholie. Zu Gedanken in Moll wie «Schon wieder ein Jahr vergangen!» oder «Wo ist nur die Zeit geblieben?». Sind diese Menschen Eltern, wird gerne ein wehmütiges «Was sind die Kinder schnell grossgeworden!» draufgesattelt sowie die rührselige Überlegung, wie es nur sein kann, dass das Töchterchen gefühlt erst gestern «eine Bäbi-Badewane» auf den Wunschzettel gekrakelt hat, und jetzt braucht man plötzlich auch noch ein Geschenk für ihren festen Freund. Haaach ja, ja, j ... würden Eltern seufzen – wenn sie nicht ständig unterbrochen würden und wenigstens Zeit zum ungestörten Seufzen hätten.
Mehr Zeit, bitte!
Haben sie aber nicht. Nach Umfragen fühlt sich ein Drittel der Schweizer:innen unter Zeitdruck, die Hälfte der Menschen der westlichen Welt empfindet sich als «zeitarm». Eltern, darf vermutet werden, haben diese Durchschnittswerte kräftig in die Höhe getrieben. Aus Deutschland jedenfalls weiss man durch eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa, dass sich 62 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kindern häufig oder sehr häufig gestresst fühlen. 2⁄3 der Väter und 1⁄3 der Mütter finden, sie hätten nicht genügend Zeit für ihre Familie. Und ganz oben auf der Liste der Wünsche fürs neue Jahr steht: mehr Zeit haben. Ja, das leuchtet jeder Mutter und jedem Vater sofort ein. Und wenn es nicht so zeitraubend wäre, extra eine Liste mit Wünschen zu schreiben: Das schriebe man gewiss auch drauf. Mit Ausrufezeichen.
Doch: Warum eigentlich leuchtet uns das ein? Sieht man sich Zahlen und Geschichte an, ist das nämlich erstmal überhaupt nicht einleuchtend. Schliesslich haben wir heute mehr Freizeit als jemals zuvor. Noch vor 200 Jahren rackerten Fabrikarbeiter 14 bis 16 Stunden täglich, samstags inklusive. 25 bezahlte Urlaubstage waren Zukunftsmusik, die Lebensdauer lag 30 Jahre unter unserer. Spülmaschinen, Saugroboter, Computer, Waschmaschinen, Fertig-Pizza, Flugzeuge und all die anderen Zeitsparer gehörten noch nicht zum Alltag. Und allein in den vergangenen gegen alle Zeit der Welt zu haben und lassen in aller Gemütsruhe ihre Unterhose ums Bein rotieren, statt sich jetzt endlich mal – ein bisschen flott, bitteschön ! – für den Kindergarten anzuziehen? Und weshalb ist von dieser Gemütsruhe rein gar nichts mehr übrig, geht es mit dem Auto in die Ferien. Wieso heisst es da leider ab Kilometer 20 : «Sind wir bald dahaaa?» Tja, warum?
Die Antworten kennen Zeitforscher. Hoffentlich. Anruf bei Marc Wittmann. Der 59-Jährige ist Wissenschaftler am Institut für Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg im Breisgau, Zeitspezialist und Co-Autor einer neuen Studie, die das Zeitempfinden von Eltern im Fokus hat. «Für Eltern vergeht die Zeit tatsächlich schneller als für kinderlose Paare», fasst Wittmann das Untersuchungsergebnis zusammen. Insgesamt hätten zwar alle Menschen zwischen 29 und 59 Jahren den Eindruck, die Zeit vergehe von Jahr zu Jahr schneller. «Bei Eltern jedoch gefühlt noch mal signifikant schneller als bei kinderlosen Paaren.» Nur – warum ist das so? Weshalb sind für sie rückblickend die vergangenen zehn Jahre nur ein Wimpernschlag? «Begründungen dafür haben wir noch nicht, aber es gibt Theorien zur subjektiven Zeitwahrnehmung, die Hinweise liefern.» Zum einen sei da das sogenannte «Zeitparadox». Erleben wir etwas Spannendes Neues, etwas Schönes oder sind wir ganz in eine Tätigkeit versunken, vergeht die Zeit wie im Flug.
Jonas Geissler, Autor und Zeitspezialist
Viel zu langsam!
In der Retrospektive jedoch kommt sie uns lang vor. Die bis zum Morgengrauen durchtanzte Nacht, der Urlaub – zack, vorbei. Doch in der Erinnerung wird genau diese intensive, für uns buchstäblich «merkwürdige» Zeit lang. Die mit Staus gespickte Fahrt in den Urlaub jedoch, das Warten auf den verspäteten Zug, das schleppende Meeting – da zieht und zieht sich die Zeit wie Käsefondue. Im Nachhinein jedoch bleibt nicht viel davon, die Zeit erscheint kurz. Paradox eben. Ja, aber müssten demnach Eltern rückblickend nicht die vergangenen zehn Jahre sehr lang vorkommen? Schliesslich erlebt man mit Kindern zwischen erstem Wort, erstem Mal Läuse, erstem Flötenkonzert und erster Vorladung beim Lehrer wegen Schulschwänzens viel Neues, und die Zeit mit ihnen ist doch – nun ja, meistens – recht schön. Das sei wohl richtig, vermutet Wittmann, aber Schlafman gel, nur als Beispiel, beeinträchtige die Ge dächtnisleistung und lösche somit wahr scheinlich manche Erinnerungen. «Und auch Routinen schrumpfen rückblickend Zeit», erklärt Marc Wittmann. Die seien zwar oft mals nützlich, geben sie doch Halt, entlasteten das Gehirn und verkürzen, etwa für Kinder, die quälend lange Wartezeit bis Weih nachten durch den alljährlichen Advents kalender und das gewohnheitsmässige Guetzlibacken.
Auf der anderen Seite jedoch, sagt Wittmann nüchtern, sei es eben auch diese Wiederkehr des ewig Gleichen, das HamsterradFeeling, das die Zeit aus Elternsicht zusammenschnurren liesse: «Schulbrote schmieren, Zähneputzen beaufsichtigen, Hinter herräumen und drei Mal täglich Windeln wechseln, das wiederholt sich dann doch.» Vielleicht muss an dieser Stelle und aus Anlass der drei (!) Windeln erwähnt werden, dass Wittmann kinderlos ist. Und ein hervorragen der Wissenschaftler, weshalb er zurückhaltend ist mit nicht evidenzbasierten Mutmassungen über die Gründe für rasende Zeit und sentimentale Silvester-Gedanken. Fest jedoch steht : «Zum Jahreswechsel wird dem Menschen bewusst, dass sich die zirkuläre Zeit – etwa der Kreislauf der Jahreszeiten – nicht nur sondern dass man selbst, wenn sich der Kreis wieder mal geschlossen hat, älter geworden ist. Die lineare Zeit also unaufhaltsam ab läuft», sagt Wittmann. Insofern: Verständlich, dass beim direkten Blick aufs Stunden glas des Sensenmanns Wehmut ins Spiel kommt. Zumal wenn man das Gefühl hat, da drin riesle nur der billigste und gewöhnlichste Sand aus dem Baumarkt – ohne jedes Glitzer Partikelchen.
Edelsteinmomente
Denn «Zeit» ist verzwickt und kann vieles bedeuten. Nicht umsonst hat die Schwedische Akademie der Wissenschaften allein für Forschungen zum Thema «Zeit» 20 Nobelpreise verliehen. Doch auch schon die alten Griechen wussten: Es gibt die lineare Zeit, dafür war der Gott «Chronos» zuständig. Und es gibt diese Zeit des glücklichen Augenblicks, der genutzten Gelegenheit: Arbeits gebiet des Gottes «Kairos». Bezeichnender weise hatte dieser Gott nicht nur Flügel an Rücken und Fersen, sondern auch über der Stirn eine üppige Haarmähne, am Hinterkopf jedoch eine Glatze: Ist eine günstige Gelegen heit nämlich vorüber, kann man sie nicht mehr am Schopf packen. Da liegt es nahe, sich Kairos zum besten Freund zu machen. «Edelsteinmomente» zu sammeln, wie jede Therapeutin und jeder genutzt verstreichen zu lassen, die Zeit auszu wringen wie nasse Socken, sie zu optimieren, ja, gleich das ganze Leben zu optimieren. Ganz im Sinne aller «Carpe diem»Tattoos. Nur – hasten Eltern damit direkt in die nächste Zeitfalle.
Denn: «Einen Zuwachs an Zeitqualität erreicht man am ehesten durch weniger Quantität», weiss Jonas Geissler, Vortragsredner und Autor der Bücher «Time is honey» und «Alles eine Frage der Zeit». «Erfüllte Zeit ist nicht das gleiche wie gefüllte Zeit». Leider, so der Zeitspezialist, quetsche der moderne Mensch ständig mehr in seine 24 Stunden täglich. Die Arbeit, klar. Die Kinderbetreuung, versteht sich. Fitnesstraining, weil das gesund ist. Ausstellungsbesuch, denn ein bisschen Kultur sollte ja sein. Den Ballettunterricht fürs Kind, zu dem es 40 Minuten quer durch die Stadt chauffiert werden muss. Teamevent, Einsatz beim Schulbazar, Elternabend, Coiffeur, Grosis Geburtstag, Sex, Regenhose kaufen, winterharte Pflanzen für den Balkon besorgen, Vokabeln abhören ... «Wir müssen ‹Kompetenz im Verpassen› entwickeln», findet Jonas Geissler, «Wir opfern unsere Gegenwart für etwas, das vielleicht in der Zukunft eintritt.»
Marc Wittmann, Psychologe und Zeitforscher
Die Schnipsel freier Minuten
Das Kind also vielleicht später mal musisch wird, die Überstunden vielleicht irgendwann die Karriere boostern, das Fitnesstraining vielleicht den 90. Geburtstag wahrscheinlicher macht ... «Statt unsere Zeit ständig zu verdichten, brauchen wir Lockerheit. Toleranz dem Chaos, engagierte Wurstigkeit dem Perfektionismus gegenüber», findet Geissler. «Mehr Gelassenheit erreichen wir durch Lassen, sowie – das Prinzip ‹mehr Wegschaffen en bloc, statt ad hoc›.» Und – freie Zeiten en bloc, am Stück. Denn was bei allen Zeitbudget-Erhebungen vergessen wird, ist, dass diese ausgerechnete Summe an Freizeit (zählt «Steuererklärung ausfüllen» eigentlich zur freien Zeit?) Ergebnis einer Addition ist: die 10 Minuten während man darauf wartet, dass das Kind seinen Turnbeutel gefunden hat + die halbe Stunde Velofahrt zur Arbeit + 15 Minuten Strumpfhose kaufen + 10 Minuten Zeitung lesen, bis das Jüngste dringend Pippi muss + 5 Minuten Zeitung lesen, bis der Grosse schreit, weil er aus dem Hochbett gefallen ist + 2 Minuten googeln «Sturz aus dem Hochbett gefährlich?» + 20 Minuten im Wartezimmer des Notarztes + 5 Minuten durch Katzenvideos scrollen zur Beruhigung, während zeitgleich eine Mail vom Chef aufploppt ...
Kurz: Unsere freie Zeit, ist fragmentiert. Ist keine für die eigene Erholung wertvolle, selbstbestimmte Zeit, sondern blosses – Zeit-Konfetti. Erfunden hat den hübschen Begriff «Zeit Konfetti» für die Schnipsel freier Minuten die amerikanische Autorin und Direktorin des «Better Life Lab», Brigid Schulte. Und ebendiese zerhäckselte Freizeit sorgt nicht nur dafür, dass wir unsere Aufgaben wegen der ständigen Unterbrechungen nicht, oder nur mit Mühe, geschafft kriegen, sondern auch dafür, dass das schale Gefühl zurückbleibt, eigentlich überhaupt keine freie Zeit gehabt zu haben. Denn genauso wie aus Konfetti niemals mehr ein Blatt Papier wird, fügen sich Zeitschnipsel nicht zu einer erholsamen Phase freier Zeit zusammen. Frauen, besonders Mütter, kennen Zeit-Konfetti nur zu gut. Ihre Zeit wird deutlich häufiger als die der Männer von Care-Aufgaben unterbrochen. Das belegt eine Studie der australischen Soziologin Judy Wajcman. Mal eben der Barbie den Kopf wieder drauffriemeln, kurz der Schul-Whatsapp-Gruppe auf die Frage «Habt ihr auch Hand-Fuss-Mund erwischt?» antworten, schnell beim Jüngsten nachsehen, ob wir Hand-Fuss-Mund erwischt haben und Grosi am Telefon trösten, die Wasser im Keller hat ... Selbstbestimmte Stunden, ohne dass irgendwer reingrätscht? Fehlanzeige. Stattdessen: durchlöcherte, morsche Freizeit ohne Erholungswert. Doch – wie Termiten helfen wir beim Durchlöchern fleissig mit. Etwa mit Instagram, Youtube, Tiktok und Co. Im Schnitt greifen wir alle 5 Minuten zum Handy.
Zeit ist nicht gleich Zeit
Auf rund drei Stunden täglich am Smartphone bringen es erwachsene Schweizer:innen. Verplemperte Zeit, die blitzschnell vergeht und von der in der Erinnerung nichts bleiben wird. Heisst das Gegenmittel also biblisch «werdet wie die Kinder»? Schliesslich haben die nicht das Gefühl, die Zeit rinne ihnen durch die Finger. Zudem haben sie meist die Ruhe weg. Abgesehen vielleicht vom obligatorischen «Sind wir bald dahhaaa?» beim Autofahren. Videocall mit Entwicklungspsychologin Jasmin Brummer, die gerade einen Forschungsaufenthalt zu Zeitwahrnehmung und Gedächtnis in Berkeley absolviert. Weshalb Kindern zwei Stunden länger vorkommen als Erwachsenen, sei reine Mathematik, sagt die 29-jährige Gedächtnisforscherin.
«Prozentual macht etwa die zweistündige Autofahrt oder der Monat Warten wie in der Adventszeit, bei Kindern einfach mehr ihrer Lebenszeit aus als bei älteren Menschen.» Darüber hinaus müssten Kinder Zeitgefühl erst erlernen, «zeitsozialisiert» werden: durch Routinen, strukturierte Tagesabläufe, fixe Ereignisse ... Bis zum Alter von zwei Jahren, erklärt Jasmin Brummer, gäbe es für ein Kind nur das Jetzt, das Ereignis. Kein Gestern. Kein Morgen. Ab vier bis fünf Jahren entwickle sich eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft, Stunden und Minuten. Mit dem Schulalter dann komme nach und nach die Fähigkeit hinzu, Dauer einzuschätzen, sich Zeit einteilen zu können. «Und», sagt die Psychologin, «ab jetzt lernen die Kinder Effizienz. Also nicht ihr Bestmögliches bei einer Aufgabe zu leis ten, sondern ihr Bestmög liches innerhalb eines fixen Zeitrahmens.» 45 Minuten für den Aufsatz. Punkt.
Sprudelnde Ideen hin oder her. Mit etwa 12 Jahren gelten Jungen und Mädchen als «Zeiterwachsene». Und zwar genau ab dem Moment, schreibt die schwe dische Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Westlund in ihrem Aufsatz «Kinderzeiten», wenn sie sich erstmals wünschen: «Hätte ich doch mehr Zeit !» Willkommen in der Erwachsenenwelt, der Welt von Zeitarmut und ZeitKonfetti. Jasmin Brummers schnell wirksamer InstantTipp dagegen: «Freie Minuten nicht füllen! Aus dem Fenster sehen. Langeweile aushalten. Schöne Momente schaffen und bewusst ge niessen. Und einen Zettel an den Kühlschrank kleben: «Du hast heute genug erreicht!» In diesem Sinne: Eine gute Zeit im neuen Jahr ! Voller wunderbar «merkwürdiger» Momente, die einen echten KonfettiRegen verdienen!
Zeitschredder
Sie zerlegen unsere Aufmerksamkeit in Sekunden, zerhäckseln unsere freie Zeit und – machen Erholung schwierig.
• Smartphone. Der Griff danach erfolgt im Schnitt alle fünf Minuten. Sogar während des Spielens mit den Kindern.
• Ständige Erreichbarkeit. 40 Prozent der Erwachsenen gehen davon aus, dass Dienstmails auch nach Feierabend beantwortet werden müssen.
• Fomo: Fear of missing out. Der innere Druck, nichts verpassen zu dürfen.
• Busy-Kultur. Allzeit keine Zeit zu haben, ist nicht schick, sondern fehlende Gewichtung und Planung.
• Multitasking. Können wir in Wirklichkeit nämlich äusserst schlecht. Unterbrechungen verzögern nicht nur ein Ergebnis, sondern machen es auch schlechter.
• Immer ansprechbar sein. Es ist erlaubt, sich für eine wichtige Aufgabe zurückzuziehen.
Zeitfresser
Sie schleichen sich leise ein, nagen an unseren Stunden und – sorgen für Stress. • Sich immer zuständig fühlen.
• Tag vollzustopfen. Qualität geht über Quantität. Weniger unternehmen, dafür bewusster, heisst die Lösung.
• Zeit nicht wertschätzen. Lohnt sich – umgerechnet in Stundenlohn – ein Riesenumweg, weil es fünf Kilometer entfernt billigeres Benzin oder günstigere Erbsen gibt?
• Übermass an Routine. Gewohnheiten sind zwar wichtig, aber ewig der gleiche Trott sorgt dafür, dass die Zeit durch die Finger rinnt.
• Sich nicht bewusst erinnern. Beim Erinnern und Zeitfesthalten hilft das gute alte Fotoalbum.
• Perfektionismus. Ist ohnehin eine Illusion. Besser, man sieht es frühzeitig ein.
