
Jannik Stegen
Erziehung
Raum für Fehler
Von Maria Wyler
Wer die Regeln des Zusammenlebens lernen und begreifen will, muss wiederholt Mist bauen dürfen – aber wo ist er hin, der Raum für Fehler? Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine positive Fehlerkultur, mehr Gelassenheit und ein grosses JA zum Chaos zugunsten eigenwirksamer Kinder.
Kürzlich waren wir als Familie mit einem Verkaufsstand am Flohmi in der Stadt. Im Laufe des Tages kaufte mir eine Frau ein Kleidungsstück ab. Nachdem sie bezahlt hatte, sagte sie in gebrochenem Deutsch und forderndem Ton zu mir: «Gib mir eine Tasche !» Mein Gesicht entgleiste. Ich fauchte sie an: «Gehts etwas freundlicher? Und ich habe keine Tasche, das hier ist kein Supermarkt !» Sie starrte mich an und schrumpfte regelrecht vor meinen Augen. Sie verstand offensichtlich nicht, was sie falsch gemacht hatte, mir tat meine Reaktion umgehend leid. Ich entschuldigte mich. In diesem Text geht es nicht um kulturelle Unterschiede. Wobei, vielleicht schon ein bisschen. Aber nicht im globalen Sinne. Mich beschäftigt unsere Knausrigkeit, was den Raum für Fehler betrifft. Fehltritte sind zu etwas geworden, das nicht mehr logischerweise zum Menschsein dazugehört. Etwas, das nötig ist, um wachsen zu können. Fehler machen ist Versagen. Und Versagen ist etwas, das es unter allen Umständen gilt zu vermeiden.
Strafe im Schafspelz
Ich bin immer wieder erstaunt über Berichte aus dem Schulalltag, der Badi oder anderen Schauplätzen, die ihren Weg an unseren Familientisch finden. Sind Erwachsene vor Ort, wird nach ihren Regeln des Zusammenlebens gespielt. Sie bestimmen die Kultur. Das macht zwar Sinn, schliesslich kann man den Kinderstaat schlecht sich selbst überlassen. Der Spielraum fällt aber oft mickrig aus. Strafen heissen jetzt einfach «Wiedergutmachung». Im Grundsatz verstehe ich den Unterschied schon. Natürlich macht es mehr Sinn, einem Gspänli einen Entschuldigungsbrief zu schreiben oder der Klasse einen Kuchen zu backen, weil man den Unterricht gestört hat, als zwanzig Mal «Ich darf dem Henri nicht Heinrich Pimmelzwerg sagen» zu schreiben. Wird die Wiedergutmachung und womöglich auch ihre Form undiskutierbar aufgedrückt und eingefordert, frage ich mich aber, ob sie nicht die gleiche Hilflosigkeit und Scham auslöst, wie wenn das Kind in die Ecke gestellt wird. Zumal wenn dieses vielleicht noch etwas dazu zu sagen hätte, sich missverstanden fühlt oder seinen Fehltritt nicht begreift.
Es sollte uns jucken
Ich habe mich etwas in der Kinderwelt umgehört. Fehlverhalten passiert natürlich da, wo es Regeln gibt. Miro, 11, erzählt mir: «Wenn wir einen Stift ausleihen wollen von einem Gspänli, weil wir das Etui vergessen haben, dürfen wir das nicht. Wenn mein Kollege keine Stifte hat, kann er ja den Auftrag nicht ausführen – ich fände es logisch, wenn wir einander helfen dürften. Es haben alle etwas davon.» Wenn er könnte, würde er einführen, dass wenn man am Arbeiten ist und eine Frage hat, man das Kind nebenan fragen darf. Das sei verboten. Ruby, 9, sagt: «Ich verstehe nicht, warum man in der Badi nicht seitlich ins Wasser springen darf. Es ist ja gleich gefährlich oder ungefährlich wie am anderen Rand.» Und Liam, 14, meint: «Warum darf man nur auf dem roten Platz Fussball spielen? Es ist alles Pausenplatzboden und es tut niemandem weh. Ich fände es logisch, wenn man überall Fussball spielen dürfte, solange es niemanden stört.» Ballspiele sind ein grosses Thema, wenn es um Regeln geht. Gleich mehrere Kinder erzählen mir, wie sie fürs Fussballspielen im Turnen gesperrt wurden, weil sie zu scharf geschossen hätten. Keinem einzigen Kind wurde erklärt, wie scharf zu scharf ist. Überhaupt haben viele, als sie nach dem Sinn einer bestimmten Regel gefragt haben, keine hilfreiche Antwort erhalten. Lauro, 9, hat für fünf Mädchen aus der Klasse eine Wiedergutmachung gebastelt, weil er um Znüni gebettelt hat. Das Basteln hat ihm zwar Spass gemacht, das Wort «übergriffig» hat er aber nicht ganz verstanden. Er meint: «Ich habe sie ja nicht gezwungen, mir etwas zu geben, und auch nichts gestohlen.» Miro und seine Kollegen haben sich nach Schulschluss auf dem Pausenplatz zum Spass herumgeschubst und mussten dafür eine Woche lang in der Pause drinbleiben. Die Erklärung war, dass sie ein Vorbild für andere Kinder sein müssten. Was für ihn keinen Sinn macht, da sie «eh schon später aus der Schule entlassen worden wären und niemand mehr da gewesen sei». Liam, 14, fragt erst gar nicht mehr. «Es hätte sie eh nicht gejuckt.» Wenn er eine Regel machen dürfte, würde er einführen, dass Kinder mehr diskutieren dürften und die Betreuenden auch zuhören müssen. Ich finde, es sollte uns jucken, ob Kinder die Regeln verstehen, die sie befolgen sollen. Dafür sollte es uns weniger jucken, wenn sie (vermeintliche) Fehler machen. Wie sollen sie sonst lernen?
Ruth Etter, Kinderärztin
Wie kannst du nur?
Das ist doch oft die Unterzeile unserer Reaktion auf – in unseren Augen – unangebrachtes Verhalten. Wie kannst du nur so scharf schiessen? Wie kannst du nur so mit mir reden? Wie kannst du nur so gemein sein? Im besten Fall ist es ein: Warum hast du das getan? Aber das Warum impliziert auch, dass etwas klar falsch ist. Und es deutet an, dass jemand es hätte besser wissen müssen. Dass jemand sich bewusst dagegen entschieden hat, das Richtige zu tun. Aber was, wenn es das Kind eben nicht weiss? Oder nicht versteht? Selten fragen wir: Wie hast du das gemeint? Und da war doch noch etwas mit Grenzen-Ausloten. Wir wissen alle von der Notwendigkeit dieses Sichausprobieren-Könnens Bescheid und dulden es trotzdem nicht. Kind sein heisst Fehler machen dürfen – nein, mehr noch, müssen! Stattdessen leben die Kinder schon in ihrer eigenen kleinen Leistungsgesellschaft. Wir Erwachsenen müssen in der Erziehung alles richtig machen, erfolgreich sein im Job, gesund leben, uns selbst verwirklichen, top aussehen, mit den digitalen Medien umgehen können und bitte sehr glücklich und ausgeglichen sein. Die Kinder müssen sich korrekt verhalten, in der Schule performen, ihre Zeit und Talente optimal nutzen, sich genügend bewegen, mit den digitalen Medien umgehen können und bitte auch sehr glücklich und ausgeglichen sein. Kein Raum für Fehler.
Misserfolge führen zum Erfolg
Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm schreibt in einem Blogbeitrag: «Selbstzweifel gehen einher mit mangelndem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Die Wissenschaft nennt dies das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Selbstwirksame Menschen halten sich für fähig, neue Dinge zu lernen, Einfluss zu nehmen und damit Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Überleister haben oft eine tiefe Selbstwirksamkeit, weil diese durch Selbstzweifel geschwächt wird. Sie sind überzeugt, ihre Erfolge seien nur Zufälle. Darum schreiben sie diese nicht sich selbst zu, sondern den Eltern, dem Glück, dem Zufall. Überleister sind nicht erfolgs-, sondern misserfolgsorientiert.»
In Stamms Beitrag geht es zwar um Bildungspolitik, ich wage jedoch zu behaupten, dass die sehr hohen Ansprüche an die Kinder auch in alle anderen Lebensbereiche übergeschwappt sind. Ich kenne wenige Eltern, die darauf pfeifen, wenn der Nachwuchs aus der Reihe tanzt und Defizite präsentiert, egal in welchem Bereich. Das Gefühl, versagt zu haben, ist das Gleiche – ob man nun für eine schlechte Note oder für unangemessenes Benehmen getadelt wird oder dafür, schon wieder das Etui vergessen zu haben. Es gibt keine sichere Nische mehr vor dem Leistungsdruck. Und gerade was die Regeln des Zusammenlebens betrifft, ist er immens gross. Im Awareness-Zeitalter, überwacht von Millionen Hobbypsycholog:innen und Weltverbesserern, kann sich eigentlich niemand mehr zwischenmenschliches Fehlverhalten leisten. Der Grundton scheint mir nicht «Komm, wir lernen zusammen, es besser zu machen», sondern «Wehe, du machst es falsch!» Wir wollen Lernprozesse überspringen und bei der Perfektion anfangen. Am Ende ihres Artikels zitiert Stamm den Pädagogik-Vorreiter Heinrich Pestalozzi: «Das Herz der Kinder darf leben und wirken, doch sie müssen nicht immer glänzen.»
Liam, 14
Kindergerecht regeln?
Klingt grundsätzlich gut. Aber ab wann können Kinder die Folgen ihres Verhaltens einschätzen, und sind sie überhaupt fähig, sich freiwillig für eine sie einschränkende Regel zu entscheiden? Ruth Etter ist Oberärztin in der Entwicklungspädiatrie am Kispi Zürich. Sie sagt, das hänge von der individuellen Entwicklung eines Kindes ab, wie auch von der Art der Regeln. «Ab etwa drei bis fünf Jahren haben sie eine ‹Theory of Mind›, das bedeutet, dass sie sich in eine andere Person hineinversetzen können.» Altersgerechtes Mitspracherecht mache Sinn, so Etter. Wer Regeln mitgestalten dürfe, halte sich auch eher daran. «Es fördert das Verantwortungsbewusstsein wie auch das Selbstwertgefühl, weil das Kind sich gehört fühlt. Kinder im Alter von vier bis acht Jahren halten alles, was eine Autoritätsperson sagt, für richtig. Sie befolgen die Regeln überwiegend aus dem eigenen Blickwinkel, um eine Belohnung zu erhalten oder eine Strafe zu vermeiden. Erst ab etwa acht bis zehn Jahren sehen sie Regeln als gemeinsame Vereinbarungen, die veränderbar sind. Ab diesem Alter beginnen Kinder, aufgrund von inneren Werten zu beurteilen, was richtig und was falsch ist, und gehorchen nicht mehr blind. Ab der frühen Pubertät beginnen sie, sich aus eigener Überzeugung an Regeln zu halten, und verstehen zunehmend komplexere Regeln in ihrer ganzen Tragweite.» Laut Etter braucht es beides: fixe und diskutierbare Regeln. Wichtig seien eine liebevolle Begleitung, Geduld und Wiederholungen. Eingreifen sei dann nötig, wenn ernsthafter Schaden drohe. «Wenn die Risiken überschaubar sind, dann dürfen wir die Kinder auch mal selbst entscheiden lassen.»
Ja zum Chaos
Es ist gar nicht so leicht, Raum für Fehler und Selbstreflexion zu schaffen, wenn man das Chaos fürchtet. Ich merke selbst, dass ich oft nicht die Kraft habe, unberechenbare Situationen auszuhalten. Warum sie also heraufbeschwören? Die Antwort ist eigentlich simpel: Wer menschlich, verletzlich, zugänglich, resistent und flexibel sein will, muss Ja sagen. Zum Chaos. Zu Überraschungen. Zu Konfrontationen. «Die Grundsätze sollen nicht jedes Mal infrage gestellt werden, aber es gibt einen gewissen Verhandlungsspielraum. Eine positive Fehlerkultur hilft, mit Fehlern konstruktiv umzugehen. Dafür ist ein warmes, familiäres Klima Voraussetzung, in dem man sich getrauen kann, Fehler ohne Scham oder Angst vor Bestrafung und Ausgrenzung zuzugeben», so Etter. Und weiter: «Wenn sich Kinder nicht ernst genommen oder gehört fühlen, leidet ihr Selbstwertgefühl. Wenn man ihnen keine Verantwortung zutraut, werden sie weniger Eigeninitiative zeigen. Kinder können mit Rückzug – dann sag ich halt gar nichts mehr – oder mit Widerstand – dann halte ich mich aus Protest nicht daran – auf fehlende Anerkennung der eigenen Ideen reagieren. Wenn wir ihnen umgekehrt Mitspracherecht und Selbstverantwortung zugestehen, stärkt das ihr Selbstwertgefühl und sie werden eine höhere Eigenmotivation zeigen. Sie entwickeln bessere soziale Fähigkeiten, indem ihr Verantwortungsbewusstsein wächst. Auch erleben sie dann Selbstwirksamkeit.» Da ist es wieder, das Wort.