
Sabine Haelen
Monatsgespräch
«Kinder müssen erleben, dass ihre Stimme zählt»
Von Caterina Melliger
Was heisst es, Kinder zu schützen – in einer Welt, die digital, schnell und oft überfordernd ist? Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz spricht über Halt, Vertrauen und darüber, was Kinder stark macht.
Frau Bernhard Hug, ich hatte beim Vorbereiten dieses Gesprächs so viele Fragen – fast zu viele. Ist das ein Zeichen dafür, dass wir heute mehr Probleme haben im Bereich Kindesschutz? Oder sprechen wir einfach nur mehr darüber?
Ich glaube nicht, dass es nur eine veränderte Wahrnehmung ist. Seit etwa 2010 hat sich mit dem Aufkommen der digitalen Welt für Kinder eine zweite Realität geöffnet. Diese Parallelwelt birgt nicht nur neue Chancen, sondern auch viele Risiken. Dinge wie Mobbing passieren heute nicht nur auf dem Pausenplatz, sondern auch online. Sie verlagern sich ins Netz und werden dort intensiver, häufiger und schwerer kontrollierbar – auch, weil Smartphones bis ins Kinderzimmer reichen. Ganz allgemein würde ich sogar sagen: Die Probleme haben sich verdoppelt.
Auch der Wunsch nach Schutz scheint bei den Eltern gewachsen zu sein. Manche Eltern packen ihren Kindern AirTags in den Rucksack.
Das sehen wir auch. Die Unsicherheit ist gross – gerade im digitalen Raum. Eltern wollen ihre Kinder schützen, doch gleichzeitig trauen sie ihnen auch in der analogen Welt weniger zu. Die Konsequenz: Man versucht, Kontrolle durch Technik zu gewinnen. Das ist nachvollziehbar, aber auch ein Zeichen dafür, wie sehr sich das Vertrauen in die Kinder und der Spielraum verändert haben.
Auch draussen spielen Kinder heute seltener frei. Wie kam es dazu?
Der Trend begann schon vor der Digitalisierung. Es gab gesellschaftliche Verschiebungen: mehr Angst, mehr Organisation. Kinder wurden früher eher mal allein draussen gelassen. Heute planen wir alles durch, Freizeit wird in angeleitete Aktivitäten verpackt. Das freie, unbeaufsichtigte Spiel hat abgenommen. Mit dem Aufkommen von Smartphones kam dann noch die ständige Erreichbarkeit und Überwachung hinzu.
War das Internet der eigentliche Wendepunkt?
Das World Wide Web, später dann die Smartphones, waren sicher Katalysatoren. Gleichzeitig wurden Entlastungsstrukturen wie Tagesschulen aufgebaut – eine gute Sache, aber eben auch sehr organisiert. Es gibt weniger Raum für Spontanität. Ich will das nicht romantisieren, aber früher war einfach mehr Ungeplantes und mehr freies Spiel möglich.
Haben wir als Eltern mehr Angst?
Ja, definitiv. Und das verstärkt sich durch Medienkonsum. Negative Nachrichten bleiben hängen, werden durch Algorithmen priorisiert. Das erzeugt ein Klima der Verunsicherung. Wir bekommen Angst, und diese überträgt sich auf unsere Kinder.
Kinder werden heute oft in Gespräche der Erwachsenen einbezogen. Ist das gut oder zu viel?
Beides. Es ist gut, wenn Kinder verstehen, wie die Welt funktioniert. Aber es gibt auch eine Grenze. Wenn man mit Primarschulkindern beispielsweise über sexualisierte Gewalt spricht, muss man sorgfältig abwägen, wie man das tut. Wichtig ist, dass sie eine Sprache für Körper und Gefühle entwickeln, damit sie sich äussern können, wenn sie Grenzverletzungen erfahren. Aber sie müssen Pädokriminalität nicht in allen Ausprägungen beschrieben erhalten.
Was ist mit den Gefahren im Netz – wie offen soll man darüber sprechen?
Ich finde, man darf und muss sagen, dass nicht alle Menschen im Internet gute Absichten haben. Auch wenn es schwer verständlich ist: Es gibt Erwachsene, die sexuelle Kontakte zu Kindern suchen, und das ist nicht okay. Wenn ein Kind weiss, dass dies auch seine Eltern wissen, dann vertraut es sich eher an, wenn etwas Ungutes passiert.
Ein anderes Thema, das viele Eltern verunsichert: Sextortion. Wie gross ist die Gefahr?
Leider sehr gross. Es braucht heute oft nur ein einziges Foto – und mithilfe von KI lässt sich daraus glaubwürdiges, manipuliertes Material erstellen. Kinder und Jugendliche werden erpresst, oft mit schwerwiegenden psychischen Folgen. Wir raten deshalb klar: keine Kinderfotos mit Gesicht posten. Das Netz vergisst nichts – und Missbrauch beginnt oft dort, wo man ihn am wenigsten erwartet.
Trotzdem posten viele Eltern Bilder ihrer Kinder. Was sagen Sie dazu?
Die meisten meinen es nicht böse. Aber die technischen Möglichkeiten sind enorm. Ein harmloses Bild kann in den falschen Händen gefährlich werden. Heute sagen wir klar: kein Gesicht von vorne. Seitenansichten, von hinten – das geht. Aber keine klar erkennbaren Portraits. Das schützt Kinder.
Kinderschutz Schweiz hat kürzlich eine Elternbefragung zur psychischen Gewalt veröffentlicht. Was hat Sie daran am meisten beschäftigt?
Was mir Sorge bereitet: Der Anteil von Eltern, die regelmässig psychische Gewalt anwenden, ist nach Corona wieder gestiegen. Die Pandemie war ein Brennglas für alle Risikofaktoren: beengte Wohnverhältnisse, Stress, fehlende Entlastung. Das hat sich leider in einer Zunahme von Gewalt in der Familie niedergeschlagen. Damals eingeübte Verhalten in Konflikten sind wir scheinbar noch nicht wieder losgeworden. Regelmässige Gewalt an Kindern hat wieder zugenommen.
Was heisst psychische Gewalt in diesem Kontext?
Das kann vieles sein: Herabwürdigung, Einschüchterung, Liebesentzug, permanentes Kritisieren. Oft sind es Verhaltensweisen, die sich einschleichen, gerade in belastenden Situationen. Eltern tun das in den meisten Fällen nicht aus Bosheit, sondern weil sie schlicht gestresst oder überfordert sind. Umso wichtiger ist es, dass man darüber spricht, man merkt, dass man nicht allein ist und Entlastungsangebote erhält.
Was raten Sie Eltern, die merken, dass sie überfordert sind?
Zuallererst: Alle Emotionen sind erlaubt, aber nicht alle Handlungen. Es ist menschlich, mal laut zu werden oder überfordert zu sein. Entscheidend ist, wie man mit der eigenen Wut oder Hilflosigkeit umgeht. Kinder sollen erleben, dass auch Erwachsene Emotionen haben – aber auch, wie man diese regulieren kann. Ein kurzer Rückzug, ein Atemritual, ein offenes Wort: Das kann schon viel bewirken. Es gibt Alternativen zur Gewalt.
Was bietet Kinderschutz Schweiz an konkreter Hilfe?
Unser Kursprogramm Starke Eltern – Starke Kinder fördert die gewaltfreie Erziehung. Früher waren das nur physische Kurse in den Quartieren, heute bieten wir auch flexible Online-Formate an. Kleine Inputs, Workshops zu Wut, gewaltfreier Kommunikation, Mediennutzung.
Und wie gut werden diese Angebote angenommen?
Im letzten Jahr nahmen rund 700 Eltern teil. Das ist nicht viel. Und es sind meist jene, die sich ohnehin reflektiert mit Erziehung auseinandersetzen. Diejenigen Eltern – die regelmässig in Stresssituationen zu Gewalt greifen – erreichen wir damit kaum. Das ist ein strukturelles Problem. Diese Eltern würden wir besser mit einem Gesetz erreichen, das sowohl die gewaltfreie Erziehung zur Norm erklärt als auch Eltern und Kindern niederschwellige Unterstützung in Konflikten anbietet.
Dies hat auch die Politik erkannt: Der neue Artikel im ZGB zur gewaltfreien Erziehung will genau diese zwei Dinge. Was bedeutet das konkret?
Der Vorschlag des Bundesrats setzt ein klares Zeichen: Gewalt hat in der Erziehung keinen Platz. Das ist enorm wichtig. Gleichzeitig verpflichtet er die Kantone, Angebote für Eltern zu schaffen. Hier haben wir heute noch ein Problem: In vielen Kantonen fehlt es an Ressourcen. Ob eine Familie Unterstützung erhält, hängt davon ab, wo eine Familie lebt. Das ist eine stossende Ungleichheit.
Gilt der Mangel an Ressourcen auch für Fachpersonen in Schulen und Arztpraxen?
Ja. Lehrpersonen sind sehr wichtige Akteure des Kindesschutzes. Sie beobachten Kinder täglich – und sind oft die Ersten, die Veränderungen bemerken. Aber bei zu grossen Klassen, zu wenig Schulsozialarbeit und häufigem Personalwechsel wird das fast unmöglich. Doch wir haben immer mehr Wechsel. Und auch Kinderärztinnen, die Kinderpsychiatrie oder Polizei sind vielerorts überlastet oder unterbesetzt.
Was bedeutet das konkret für den Kindesschutz?
Wir haben eigentlich ein gutes System – aber es funktioniert nur, wenn genug Menschen da sind, die es umsetzen. Wenn eine Beratungsstelle überlastet ist, kann sie viele Fälle erst zu spät betreuen. Wenn eine Fachperson ständig wechselt, kann kein Vertrauen entstehen. Mangel an Zeit und verlässlichen Bezugspersonen für Kinder sind aktuell unsere grössten Herausforderungen.
Wenn Gewalt unter Paaren stattfindet, sind oft auch Kinder direkt betroffen. Was lässt sich da präventiv tun?
Kinder leiden immer mit – auch wenn sie «nur» Zeugen sind, erleben sie psychische Gewalt. Oftmals münden Gewaltspiralen in einer traumatischen Eskalation. Es ist deshalb wichtig, dass sich Eltern frühzeitig unterstützen lassen und sie auch für ihre Konflikte Alternativen zur Gewalt finden. Wenn es dann so eskaliert ist, dass Frauenhäuser ins Spiel kommen, sind die Kinder ebenfalls direkt betroffen, denn rund die Hälfte der Bewohnenden von Frauenhäusern sind Kinder. Deshalb arbeitet Kinderschutz Schweiz zurzeit mit den Frauenhäusern ein Kinder-Schutzkonzept aus. Es braucht nach so traumatischen Erfahrungen umso mehr sichere Räume für Kinder, real wie auch digital.
Kinderschutz Schweiz setzt sich dafür ein, Gewalt an Kindern zu verhindern und ihre Rechte zu stärken – durch Prävention, Sensibilisierung und Beratung. 2023 wurden in Schweizer Kinderkliniken 2097 Kinder wegen Misshandlungen behandelt, 11% mehr als im Jahr zuvor. Am häufigsten waren psychische Misshandlungen (31,8%), Vernachlässigungen (28%) und körperliche Gewalt (26,3%). 45% der betroffenen Kinder waren unter sechs Jahren alt.
Wie können wir Kinder heute wirklich stärken?
Indem wir ihnen Vertrauen schenken, ihnen etwas zutrauen und sie beteiligen. Sie brauchen Selbstwirksamkeit, müssen erleben, dass ihre Stimme zählt. Das gilt zu Hause genauso wie in der Schule oder im Verein. Kinder stark zu machen, heisst nicht, sie alleine zu lassen oder ihnen die Verantwortung für sich zu übertragen, sondern ihnen verlässlich Halt und Orientierung zu geben, verfügbar zu sein, ohne sie zu sehr zu kontrollieren. Das ist anspruchsvoll, aber mit viel Liebe gekoppelt sind dies die besten Grundlagen für eine gesunde Entwicklung.
Was wünschen Sie sich für den Schutz der Kinder in Zukunft?
Mehr Austausch und Zusammenarbeit der Erwachsenen zugunsten der Kinder. Kein einzelner Akteur schafft es heute allein, ein Kind zu schützen – weder Schulen noch Eltern noch sonstige gesellschaftliche Akteure. Erziehung ist Privatsache, Gewalt an Kindern nicht. Deshalb müssen wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass alle Kinder in der Schweiz gesund und behütet aufwachsen können.
ist die Direktorin von Kinderschutz Schweiz. Zusammen mit ihren Mitarbeitenden setzt sie sich für ein gewaltfreies Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz ein. Sie selbst ist Pädagogin und Politikwissenschaftlerin und engagiert sich seit Jahren für die Umsetzung der Kinderrechte und gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Sie lebt mit ihrer Familie in Bern.