Elternwerden
Gratulationen zur Geburt eines behinderten Kindes?
Was sagt man zu Freunden, die gerade Eltern eines Kindes mit Behinderung wurden? Zwei Betroffene erzählen, was ihnen gut tat.
Gratulieren? «Auf jeden Fall!», findet Dominique Schärer, «ein Richtig oder Falsch gibt es dabei nicht. Das Wichtigste ist, sich überhaupt bei der Familie zu melden und seiner Intuition zu vertrauen.» Die Kommunikationsverantwortliche einer NGO muss es wissen. Sie lebt mit Mann und zwei Söhnen, 8 und 6 Jahre alt, in Bern. Der Jüngste kam mit mehrfacher Körperbehinderung zur Welt. Aufgrund eines seltenen Syndroms, das erst nach der Geburt festgestellt wurde, wächst Jules’ Schädel nur in die Höhe.
«Als unser Sohn geboren wurde, sah man an seinem Kopf gleich, dass er anders ist», so Dominique Schärer. Die Ärzte waren ratlos, erst eine Genetikerin kam der Sache auf den Grund. Welche Konsequenzen das seltene Syndrom für Jules’ Entwicklung haben würde, war zunächst jedoch völlig unklar. «Am Anfang standen wir vor einem schier unüberwindbaren Berg von medizinischen Herausforderungen und grosser Ungewissheit», sagt seine Mutter.
Die heute 47-Jährige und ihr Mann informierten Eltern und Geschwister sofort, Freunden schrieben sie erst 14 Tage nach der Geburt eine Mail und erklärten die Situation. «Wir waren so mit uns und den ganzen Arztterminen beschäftigt, dass wir dafür erstmal keine Zeit hatten.» Dann aber war es dem Paar wichtig, sich bei Freunden und Bekannten zu melden – «auch um zu sagen, dass mit uns in nächster Zeit nicht zu rechnen ist», sagt Dominique Schärer. «Denn es gab so vieles zu tun: Mutter- und Vaterschaftsurlaube, die komplett umorganisiert werden mussten, Arbeitgeber, die es zu informieren galt.»
Essenziell war in dieser Zeit das äussere Umfeld. «Ich habe extrem gute Erinnerungen an die Reaktionen von Freunden und Bekannten», sagt Dominique Schärer. «Nicht einer hat sich damals von uns abgewendet, im Gegenteil. Manche schrieben liebe Karten und erwähnten Jules Behinderung mit keinem Wort; manche gingen in langen Briefen detailliert auf alles ein. Gefreut haben wir uns über jede einzelne Reaktion.»
«Ich glaube, niemand will in so einer Situation einfach nur in Ruhe gelassen oder gar gemieden werden – im Gegenteil», sagt Ingrid Eva Liedtke. Die 54-Jährige ist Mutter von drei erwachsenen Kindern, ihre Tochter kam mit Trisomie 21 auf die Welt. Heute berät die Psychologin Eltern von Kindern mit Down-Syndrom. «Was mir nach der Geburt meiner Tochter am meisten geholfen hat, war positive Bestärkung», erzählt Liedtke. «Etwa wenn jemand sagte: ‹Hey schön, Menschen mit Trisomie 21 sind so liebevoll!›» Auch Dominique Schärer und ihr Mann machten diese Erfahrung: «Uns haben die vielen ermutigenden Reaktionen gut getan», sagt sie. «Das Gefühl, unsere Freunde trauen uns zu, dies alles zu schaffen – etwa, wenn jemand schrieb: ‹So ein schönes Foto von euch vieren auf der Geburtsanzeige! Jules sieht gut aufgehoben bei euch aus!›»
Ungeschicktes Trösten vermeiden
Doch der positive Zuspruch sollte ehrlich gemeint sein und nicht übertrieben. «Ich fand es mühsam, wenn Leute meine Tochter im Kinderwagen betrachteten und aufmunternd sagten: ‹Man siehts ihr ja gar nicht an!›», so Liedtke. «Dabei sah man es sehr wohl. Was ich selbst nicht schlimm fand, denn ich konnte schnell akzeptieren, dass mein Kind speziell ist. Ungeschickte Trostversuche von anderen waren deshalb völlig unangemessen.»
«Für betroffene Eltern ist es enorm wichtig, zu merken: Das Umfeld ist da, unterstützt uns und tabuisiert vor allem die Behinderung des Kindes nicht», sagt Kathrin Kayser, Sozialarbeiterin bei der Pro Infirmis-Beratungsstelle in Altdorf im Kanton Uri. «Oft melden sich Freunde nach der Geburt nicht, weil sie überfordert sind.» Dabei sei dieses Gefühl durchaus legitim. Gerade am Anfang kann eine Unsicherheit entstehen. Häufig ist das Ausmass der Behinderung noch nicht klar und es stellen sich womöglich auch Fragen der Lebenserwartung. Kathrin Kayser empfiehlt, die Eltern offen anzusprechen: «Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll.» Das helfe Betroffenen mehr, als keine Reaktion zu zeigen.
Eltern Hilfe anbieten
Eltern eines neugeborenen Kindes mit Behinderung wüssten ausserdem meist sehr gut, was sie brauchen. Die Sozialarbeiterin rät daher konkret zu fragen: «Wie kann ich euch unterstützen?» Mit dem Geschwisterkind etwas unternehmen, für die Familie kochen, die Eltern für ein Stündchen am Spitalbett des Kindes ablösen, damit diese zwischen all den Arztterminen auch mal an die frische Luft kommen – es muss nicht viel sein. «Schon ein bisschen Entlastung ist extrem wertvoll», erinnert sich Dominique Schärer. «Familien in unserer Situation brauchen nämlich plötzlich ganz viel Hilfe– und müssen gleichzeitig lernen, Hilfe anzunehmen.»
Der sechsjährige Jules hat heute eine Hör- und Sehbehinderung, er hat eine Atemkanüle und wird künstlich ernährt. Aber er besucht eine Blindenschule, fährt Velo und lernt gerade Lesen. «Wir hatten sehr viel Glück», sagt seine Mutter. «Tolle Ärzte, eine extrem rasche Abklärung und deshalb sofort sämtliche unterstützenden medizinischen Massnahmen. Jules hat sich – entgegen den schlimmsten Befürchtungen – ausgezeichnet entwickelt.»
Im Umgang mit anderen betroffenen Familien hat Jules’ Familie auch gelernt: Familienglück ist keiner Norm unterworfen. «Manche Kinder können weder reden noch laufen und haben trotzdem viel Freude am Leben», sagt Dominique Schärer. «Meine Botschaft lautet deshalb: Habt keine Angst und geht auf Eltern zu, die ein Kind mit Behinderung bekommen haben!»
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.