
Marah Rickli
Gesellschaft
Du bist mehr als deine Behinderung
Marah Rickli schreibt Texte, haltet Reden und demonstriert – oft mit anderen Müttern und Menschen mit Behinderungen. Das gibt ihr Sinn. Was sie sich für ihre Tochter wünscht, schreibt sie in diesem offenen Brief an sie. Berührend, und kämpferisch.
Liebe Ronja,
Als du geboren wurdest, warst du sehr klein und sahst aus wie ein Frühgeborenes – obwohl du keines warst. Du kamst per Kaiserschnitt zur Welt, eine Operation, bei der das Baby durch den Bauch der Mutter geholt wird. Dein Fruchtwasser war grün, was die Ärzt:innen beunruhigte, denn das kann ein Zeichen für Stress im Mutterleib sein und die Atmung des Babys erschweren.
Nach deiner Geburt wurde alles genau untersucht, und ich hatte grosse Angst um dich. Zum Glück konntest du selbstständig atmen. Nach drei Nächten im Krankenhaus durften wir nach Hause – zu deinem Bruder. Zu Hause hast du viel geschrien, wenig getrunken, oft erbrochen. Die Entwicklungsschritte, die man von dir erwartete, blieben aus. Die Hebamme machte sich Sorgen – und ich auch. Wir fuhren immer wieder ins Kinderspital. Die Ärztinnen dort waren freundlich, sie untersuchten dich gründlich und sagten: Du seist gesund. Ich war erleichtert, aber mein Gefühl sagte mir: Da ist mehr.
Mit 18 Monaten konntest du noch immer nicht sitzen. Dein Kinderarzt empfahl weitere Abklärungen. Und so begann unser Weg durch verschiedene Fachstellen: Entwicklungspädiatrie, Neurologie, HNO, Genetik. Du hast viele Menschen getroffen – Ärztinnen, Therapeutinnen, Forscherinnen. Sie untersuchten dein Blut, dein Gehirn, deine Sinne. Du bekamst Beruhigungsmittel und wurdest für ein MRT in eine grosse Röhre geschoben. Glücklicherweise fanden sie nichts Bedrohliches. Und trotzdem blieb die Frage: Was ist anders bei dir?
Damals dachte ich oft daran, wie es wäre, wenn du schwer krank wärst. Vielleicht wären wir ans Meer gefahren, hätten das Leben gefeiert. Und irgendwie machen wir das aber auch jetzt: Du liebst Musik, Kuchen, Ausflüge, Feste – und ich auch. Wir gehen in die Gelateria, in die Badi, in den Zoo. Backen, lachen, essen Pommes in Gartenrestaurants. Ich freue mich auf den Tag, an dem wir gemeinsam an ein Festival gehen.
Mit drei Jahren bekamen wir eine erste klare Diagnose: eine globale Entwicklungsstörung. Später kamen autistische Züge dazu, ADHS, Sprachbehinderung – und vor einigen Monaten erfuhren wir, dass du eine sehr seltene genetische Erkrankung hast. Du bist das einzige Kind in der Schweiz mit dieser Diagnose. Weltweit gibt es bisher nur elf Kinder mit derselben Mutation. Alle diese Diagnosen zusammen nennt man eine kognitive Behinderung. Aber diese Bezeichnung beschreibt nicht, wer du bist. Du hast deine ganz eigenen Stärken – das haben uns die Ärzt:innen immer wieder gesagt, und ich sehe das genauso.
Ich wünsche mir, dass du deinen Weg mit deinen Behinderungen gehst – nicht trotz ihrer. Dass du Stärken entwickelst mit deinen Besonderheiten, nicht entgegen ihnen. Es sollte selbstverständlich sein, dass Menschen mit und ohne Behinderungen Stärken haben. Und dass wir uns auf das konzentrieren, was jede Person kann – nicht auf das, was sie nicht kann.
Für viele ist das Wort «Behinderung» noch immer negativ belegt. Aber für mich – und viele, die sich für Inklusion einsetzen – ist es das nicht. Raúl Krauthausen, ein bekannter Aktivist aus Deutschland, hat einmal zu mir gesagt: «Wir sollten Behinderung wie eine Eigenschaft sehen – wie eine Haar- oder Augenfarbe.» Ich stimme ihm zu. Du hast blaue Augen, blondes Haar – und mehrere Behinderungen. Du sollst in eine Schule gehen dürfen, in der du dich wohlfühlst. Eine Ausbildung machen können, bei der deine Stärken im Mittelpunkt stehen. In die Disco gehen, abstimmen, wohnen, wo du willst – allein oder mit anderen. Wenn du willst. Und wenn nicht, dann eben nicht. Dein Wille ist genauso viel wert wie meiner – oder der jedes anderen Menschen ohne Behinderung.
Ich wünsche mir, dass du lernst, dich für dich selbst einzusetzen. Und dass du erkennst: Es ist okay, im Alltag Unterstützung zu brauchen. Du musst nicht dankbar sein dafür – Hilfe steht dir zu. Ich will nicht, dass dir je jemand einredet, du seist weniger wert. Nicht wegen deiner Behinderung, nicht weil du ein Mädchen bist. Das ist feministische Erziehung: dass du über dich selbst bestimmen darfst – als Mensch, als Frau, als du selbst. Ob du dich später Feministin nennst, ist deine Entscheidung. Wichtig ist mir nur, dass du die Möglichkeit hast, die Person zu sein, die du sein willst.
Leider gibt es immer noch Menschen, die nicht an Inklusion glauben. Die verhindern wollen, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte haben. Das nennt man einen Backlash. Ich spüre ihn, wenn ich für dich kämpfen muss – um eine passende Schule, um Therapien, um Betreuung zu Hause. Manchmal bin ich deshalb sehr müde. Dann sage ich: «Mami müde.» Ich weiss nicht, ob du das verstehst – aber ich hoffe, du spürst trotzdem, wie sehr ich dich liebe. Wenn ich wütend bin auf ein System, das dich begrenzt, bin ich grimmig. Doch ich versuche, diese Wut in Kraft zu verwandeln.
Ich schreibe Texte, halte Reden, demonstriere – oft mit anderen Müttern und Menschen mit Behinderungen. Das gibt mir Sinn. Denn nur gemeinsam können wir etwas verändern. Ich hoffe, dass du auch einmal den Mut hast, dich zu zeigen. Deine Stimme zu erheben. Mit anderen für deine Rechte einzustehen – und für die anderer.
Du darfst laut sein, Ronja. Du darfst dich gegen Ungerechtigkeit stellen, du darfst träumen und kämpfen. Du musst dich nicht kleinmachen. Du darfst ein glücklicher, bunter Mensch mit Behinderungen sein – und das Leben führen, das du dir wünschst.
Ich wünsche mir eine Welt, in der das selbstverständlich ist. In der niemand benachteiligt wird wegen einer Behinderung, einer Hautfarbe, des Einkommens oder wegen einer Krankheit. Eine Welt, die auf Zusammenleben baut – und auf Freude. Auf Hoffnung. Denn Hoffnung ist das, was uns Kraft gibt.
Andere haben vor uns gekämpft, Ronja. Viele Frauen, damit ich heute als Mutter so offen schreiben darf. Jetzt kämpfen wir – damit es deine Generation einmal besser hat. Nicht schlechter. Sei es mit oder ohne Behinderungen.
In Liebe,
Dein Mami
* Name des Kindes geändert.
Marah Rikli ist freie Autorin, Moderatorin, ehemalige Buchhändlerin und aktive Speakerin für Diversität und Inklusion. Sie lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Zürich. Und lancierte kürzlich ihren eigenen Podcast Podcast Sara & Marah im Gespräch mit…