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Notfall

Baby Nummer vier

Babyklappe

Sechs Neugeborene wurden seit 2001 in die Babyklappe Einsiedeln gelegt. Das vierte Baby am Nachmittag des 1. August 2008. Das ist seine Geschichte.

Dunkel muss es gewesen sein, vielleicht kalt, gegen Mitternacht oder etwas später, vielleicht hat der Wind geweht, eisig, vielleicht hat es geregnet. So oder ähnlich muss es sein, gewesen sein, irgendwie, wenn ein Kind in die Babyklappe gelegt wird, denkt man. Dass es auch mitten am helllichten Tag passiert, mitten im Sommer, mitten im Leben, darauf käme man nicht, das passt nicht in den Kopf. Und trotzdem war es genau so. Und nicht nur bei Baby Nummer vier, dessen Geschichte wir hier erzählen. Denn Verzweiflung kennt keine Tageszeit und kein Wetter. Keiner weiss, woher das Baby kam, das am 1. August 2008 in die Babyklappe gelegt wurde, mitten am Tag und im Sommer, in Einsiedeln, wo das einzige Spital mit Babyfenster in der Schweiz steht. Keiner weiss, wie lange die Reise war. Sicher aber wird sie nie enden. Nicht im Kopf der Mutter. «Wahrscheinlich konnte sie es nicht verschieben», sagt Hebamme Sonja Erny, «unerträglich vermutlich, noch länger dieses Baby zu halten, um es dann doch wegzugeben, weggeben zu müssen.» Die Gefühle, denen kann man nachspüren, über die Gründe aber kann man nur spekulieren: Warum werden die Babys weggegeben? Warum auf diese Weise? Denn andere Möglichkeiten gäbe es auch.

Grosse Not

Das Spital Einsiedeln: Ein kleines Spital, der Notfallzugang gleich neben dem Haupteingang. Das langgezogene Gebäude bietet 65 Patienten ein Bett. Etwa 250 Babys kommen hier pro Jahr zur Welt. Die Babyklappe befindet sich auf der Stirnseite, gleich am Anfang des Gebäudes. Ein kleiner Weg führt zum Babyfenster, das, eingebaut in die Mauer, vier Meter vom Parkplatz entfernt ist. Gleich neben dem Gebäude zieht sich ein Hügel in die Höhe, dunkel, gewaltig, breit und schwer, zuoberst steht ein Kreuz aus Holz, schief, durchgerüttelt von Wind und Wetter. Es ist still hier, etwas ab vom Dorfkern. Ein paar alte Schwyzer Holzhäuser, daneben ein paar moderne Neubauten. Auf dem Hügel etwas weiter rechts strotzen unübersehbar, herausgeputzt und gewaltig, vier Sprungschanzen. Sie tragen die Namen der Skispringer Simon Ammann und Andreas Küttel, Einsiedler der eine, Schwyzer beide, Stolz der Bergregion. Warum die Babyklappe vor genau 10 Jahren ausgerechnet hier installiert wurde, in diesem abgelegenen, hügeligen Dorf, Kilometer weit entfernt von der Agglomeration, hat seinen Grund: Der damalige Belegarzt der Gynäkologie, Werner Förster, und die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind machten sich stark dafür. Anfangs gabs einen Riesenwirbel um die Babyklappe, die zum Muttertag 2001 eröffnet wurde. Dann wurde es ruhig.

Die zweite Geburt

Der Alarm schrillt durch die beschauliche Feiertagsstimmung dieses 1. Augustes 2008, ein durchdringender pfeifender Ton, der auf dem Hebammenhandy losgeht, während aus den Gärten Rauch von gegrilltem Fleisch aufsteigt, Kinder Knaller krachen lassen, Schweizer Fahnen im Wind wehen, Politiker die richtigen Worte suchen. Auf dem Display steht «Babyfenster». Hebamme Sonja Erny geht sofort los, die Treppe runter, am Empfang vorbei, gemächlichen Schrittes, so gut es eben geht, denn eigentlich müsste sie rennen, jetzt, mit all dem Adrenalin, das durch die Adern geschossen ist. Doch die Mitarbeiterinnen sind angehalten, ruhig zu bleiben in so einem Fall, auch wenn es innen drin zum Zerreissen vibriert. Weil keiner merken darf, weder Besucher noch Patienten, was gerade geschehen ist dort draussen. Sonja Erny geht weiter den Korridor entlang, endlos erscheint er in diesem Moment zum Babyfenster. Hinter einem Paravan, der als Sichtschutz dienen soll, steht eine Plexiglasbox, per Schloss gesichert. In dieser Box steht ein Bettchen – und drin liegt ein Baby. Das Baby Nummer vier.

Es ist, als wenn die Babyklappenkinder wüssten, dass keine Mama da ist.

Ohne Wurzeln

Es ist Sonja Ernys erstes Babyfenster-Kind. Ein kleiner Mensch, höchstens ein paar Tage alt, von einer Minute zur anderen entwurzelt, ohne Vergangenheit, mit ungewisser Zukunft. «Ein extremer Moment», sagt die Hebamme, «aufwühlend, emotional. » Doch dieser Film spielt sich in Sekunden ab, sie hat keine Zeit, sie muss handeln: Alarm ausschalten, Box per Schlüssel öffnen. «Der erste Blick fällt auf die Hautfarbe», sagt Erny, «ist sie rosa, ist es schon mal gut.» Rosa heisst, das Kind atmet gut, hat genügend Sauerstoff. Sie hebt das Baby aus dem Bettchen, aus der Box heraus. Eine zweite Geburt.
Drei Minuten sind vergangen, seitdem das Fenster von aussen geschlossen und gleichzeitig automatisch verriegelt wurde. Verriegelt, damit kein Unbefugter Zugriff auf das Baby hat. Drei Minuten Zeit also, um wegzugehen, sich zu entfernen, anonym, unbemerkt. Nach diesen drei Minuten geht der Alarm los. Ist Sonja Erny rausgegangen, um nachzuschauen, ob sie die Person, die Mutter wahrscheinlich, noch sieht, ob sie sie anhalten kann, mit ihr reden? «Nein, das tun wir nicht. Wir respektieren diese Entscheidung », sagt die Hebamme. «Es ist nur zu hoffen, dass es auch wirklich die Mütter sind, die die Kinder ins Fenster legen, dass es ihre Entscheidungen sind.» Sich vorzustellen, dass es gegen den Willen der Mütter geschehe, sei unerträglich.

Ohne Tränen

Hat das Baby geweint? Lag es aufgeregt, verstört gar in diesem Bettchen, in dieser Box? «Es ist ganz seltsam», sagt die Hebamme, «aber alle sechs Babyfensterkinder waren bisher auffällig ruhig.» Auch die Tage danach, die sie im Spital verbringen. «Sie schlafen, schauen zufrieden herum, weinen nur wenn sie Hunger haben, niemals sonst. Es ist, als wenn sie wissen würden, dass kein Mami da ist, als wenn sie denken würden, ich fahre am besten, wenn ich möglichst ruhig bin.» Erstaunlich sei dieses Verhalten, weil man annehmen müsse, dass vermutlich schon die Schwangerschaft und sicher auch die Geburt stressig gewesen sein dürften. «Die Frauen gebären mit grösster Wahrscheinlichkeit alleine, jedenfalls nicht in einem geschützten Rahmen einer Klinik oder eines Geburtshauses. » Das weiss man, weil die Kinder nicht fachgerecht abgenabelt wurden. Normalerweise seien Neugeborene nach stressigen Geburten eher weinerlich, bräuchten viel Nähe und Zuwendung. Die Babyklappenkinder nicht. Die Hebamme schüttelt den Kopf: «Wir haben intern schon oft darüber diskutiert. Es ist ein Rätsel.»

Hebamme Sonja Erny

Hebamme Sonja Erny: «Innen drin ist man einfach nur traurig»

Ohne Geschichte

Persönliches darf die Hebamme über das Kind, das sie aus der Klappe in die Welt geholt hat, nicht erzählen. Nicht den Namen, den die Mutter ihrem Kind vielleicht auf den Weg gegeben hat. Nicht ob ein Brief dabei war, eine Erinnerung, ein Kuscheltier. «Zum Schutz des Babys bleibt das alles unter Verschluss», sagt Erny. Eines aber kann sie sagen: «Alle Babys sind immer liebevoll in eine Decke oder ein Tuch gewickelt gewesen. Man hat gemerkt, dass die Kinder den Eltern nicht egal sind.» Das 1. August- Baby sei gar vollständig bekleidet gewesen. «Und es hatte Schoppenpulver dabei. Bei diesem Kind spürte man viel Fürsorge.» Wenn die Kinder volljährig sind, werden ihnen die Briefe, die Kleider, die persönlichen Gegenstände übergeben, die sie bei sich hatten, damals, am Tag ihrer zweiten Geburt.

Liebe auf Zeit

Baby Nummer vier geht es gut. Darum bringt es Sonja Erny nicht auf die Notfallstation, sondern ins Stillzimmer, wieder den Korridor entlang, am Empfang vorbei, mit dem Lift auf die Wochenbettstation. Merken tut keiner was. Im Stillzimmer wird das Baby genau untersucht, diverse Tests und Checks müssen gemacht werden, weil man nichts weiss über die Geschichte des Babys, nichts über die Geburt, die Mutter, die Schwangerschaft, über Krankheiten oder Süchte. «Ja, es ist schon viel, was das Kleine am Anfang mitmachen muss», sagt Sonja Erny, «doch wir nehmen uns Zeit, machen Pausen und halten das Baby, trösten es, wenn es weint.» Zwei Stunden später treffen Vertreter der Vormundschaftsbehörde ein – der Präsident Ressort Soziales und die Vormundschaftssekretärin Alexandra Reichmuth. Sie war bisher bei jedem Babyfensterkind mit dabei. Noch vor Ort bestimmt der Präsident einen Vormund für das Baby, einen von insgesamt fünf, die in Einsiedeln tätig sind. Trifft etwas Unvorhergesehenes ein oder wird das Baby krank, braucht es jemanden, der Entscheidungen trifft. Entscheidungen im Namen des Kindes, das noch keinen Namen hat. Dann wird bestimmt, wann die Meldung an die Presse rausgeht, und dann ist es öffentlich.

Das Baby bleibt höchstens ein paar Tage im Spital. Dort wird es abgeschottet von den Blicken der Neugierigen, die kommen, sehen wollen, wie so ein «Klappen-Baby» aussieht. Die Hebammen und Pflegefachfrauen der Wochenbettstation kümmern sich besonders um diese Kinder: «Ich weiss, dass man sich emotional nicht einlassen soll, das ist nicht professionell. Aber mit diesen Babys ist es halt etwas anderes», sagt Sonja Erny. Sie gibt ihnen gerne Nähe und Geborgenheit. «Sie sind so allein.» Dem Baby Nummer vier hat sie von seiner Mutter erzählt: «Deine Mama hat dich sehr lieb gehabt. Gerade darum hat sie dich zu uns gebracht. Du hast jetzt gerade niemanden auf der Welt, der dich will. Aber wir schauen für dich, du darfst jetzt bei uns sein», sagt sie zu dem Baby. «Und dann kommen ganz liebe Leute und alles wird gut.»

Sonja Erny hat Tränen in den Augen. Damals wie heute. Und wohl auch am Abschiedstag, als sie dem Baby neue Kleider angezogen hat, mit dem Kind geplaudert, mit ihm gelacht hat. «Innen drin», sagt sie, «ist man einfach nur traurig.» Der Vormund hat seinen Job gemacht. Auf Empfehlung der Fachstelle Adoption in Zürich wurde eine Übergangspflegefamilie bestimmt, «eine gute, erfahrene Familie», sagt Gerhard Villiger, der aktuelle Präsident Ressort Soziales. Diese Leute werden sich um das Kleine kümmern. Solange, bis die Adoptiveltern feststehen. Die Hebamme nimmt das Baby und übergibt es der Vormundschaftssekretärin Alexandra Reichmuth. Für Erny ist es ein Abschied für immer und eine Erinnerung, die bleibt. Was man damit macht? «Ich laufe», sagt sie.

Baby Nummer vier bekommt einen Namen. Nichts Exotisches.

Schwere Entscheidung

Baby Nummer vier lebt bei seinen Pflegeeltern. Für zwei bis sechs Wochen, je nachdem. Es hat nun einen Namen bekommen von der Vormundschaftsbehörde. Einen Vornamen und einen Nachnamen, das Kind muss offiziell ins Zivilstandsregister eingetragen werden können. «Wir wählen nichts Exotisches», sagt Gerhard Villiger, «einfach einen zeitgemässen Namen.» Und wenn die Mütter dem Baby einen Namen mitgegeben haben? Respektiert man dann ihren Wunsch? «Das kam auch schon vor, ja, wir haben dann diesen Namen gewählt», so Villiger. Doch das heisse noch lange nicht, dass der Name bleibe, denn die Adoptiveltern könnten später eine Namensänderung beantragen. Drei bis fünf Dossiers von potenziellen Adoptiveltern werden dem Vormund übergeben, ausgewählt von der Fachstelle Adoption. Der Vormund ist es, der entscheidet, wer das Baby bekommt – eine schwierige Entscheidung. Eine Entscheidung über die Richtung, den Weg, die Zukunft, die Geschichte des Kindes und die Geschichte der Paare, die sich wahrscheinlich nichts mehr wünschen als ein Baby. Doch die sich gleichzeitig bewusst sein müssen, dass sie dieses Baby erst mal auf Zeit zu sich nehmen. Denn definitiv adoptiert werden kann das Kind erst, wenn es genau ein Jahr bei den potenziellen Adoptiveltern war. Bis dahin kann sich die Mutter melden, kann ihr Kind zurückfordern, sofern die Voraussetzungen gegeben sind. Mit dem ausgewählten Adoptionspaar finden erste, sachte Kontakte statt, man trifft sich im Beisein der Pflegefamilie, des Vormunds und der Fachstelle Adoption. Und dann, irgendwann, wird das Kind übergeben. Baby Nummer vier ist angekommen.

Ein Ende am Anfang

Ob es Richtung Westen gegangen ist, Richtung Süden, ob es heute gleich nebenan lebt, in der Nachbarschaft, man weiss es nicht. Klar ist nur, dass es in der Schweiz geblieben ist. Und so endet die Geschichte von Baby Nummer vier da, wo sich seine Spur verliert. Es ist ein Ende am Anfang einer neuen Geschichte.

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