Notfall
Achtung, extrem gefährlich!
Verbrühungen bei Kleinkindern kommen häufiger vor als vermutet. Mitunter sind die Konsequenzen dramatisch.
Es passiert schnell. Papa steht am Herd und rührt die Pasta im heissen Wasser, das Handy hinter ihm auf dem Tisch vibriert – die Message der Chefin will umgehend beantwortet werden. Während der Vater tippt, saust sein Zweijähriger zur Pfanne, denn er will unbedingt wissen, was da so lustig dampft und blubbert. Der Junge greift nach dem zu ihm hin gerichteten Pfannenstiel, zieht daran – und schon ist das Unglück geschehen. Das kochende Wasser kippt über Arme, Bauch und Beine, der gellende Kinderschrei reisst den Vater aus seiner Abwesenheit.
Anzahl Verbrühungen konstant
Verbrennungen und Verbrühungen gehören zu den häufigsten Unfällen bei Kleinkindern. Diese erforschen die Welt mit Neugier und Akribie, aber leider noch gänzlich ohne Bewusstsein für Gefahren. Patsch! Schon kippt die Teetasse auf dem Tisch, oder das Wasser aus dem am langen Kabel heruntergezerrten Wasserkocher ergiesst sich über Kopf und Körper.
Während die Anzahl Feuerverletzungen – verursacht etwa durch Brennsprit, glühende Grillholzkohle oder Feuerwerkskörper – in den letzten Jahrzehnten markant zurückging, blieb die Anzahl der Verbrühungen in den letzten 40 Jahren konstant. Im Kinderspital Zürich sind es rund 80 Kinder, die einer stationären Behandlung bedürfen, schweizweit 400 bis 500. Und es betrifft vor allem junge Familien mit kleinen Kindern. Viele davon landen notfallmässig im Spital.
Einer, der sich auskennt mit Behandlungen von thermischen Verletzungen bei Kindern, ist Clemens Schiestl, Facharzt und bis vor einem Jahr Leiter der Forschungsgruppe der Plastischen Chirurgie des Universitäts-Kinderspitals in Zürich. Zum Interview kam Clemens Schiestl, damals noch Zentrumsleiter, direkt vom Operieren, bekleidet mit einem Arztkittel, grüner Hose, grünen Crocks, auf dem Kopf ein rot gemustertes, eng sitzendes Käppchen. Der Arzt, runde Hornbrille und grauer, kurz gestutzter Bart – brennt auch nach 25 Jahren noch für seinen Beruf. In seinen Sätzen schwingt viel Mitgefühl für die meist kleinen Patienten mit.
Gefährlicher Zugang
Einen Hauptgrund, weshalb so häufig Familien mit Kleinkindern von Verbrühungen betroffen sind, sieht Clemens Schiestl in der modernen Küche, die als Lebensraum dient. «Früher waren die Küchen schlauchförmig gebaut und mit einer Türe abschliessbar – heute sind sie offen und jederzeit für alle zugänglich.» Der Stress junger Familien aber blieb der gleiche, sie sind fast pausenlos am Rotieren. Und erkrankt dann noch ein Kind, will man ihm vielleicht schnell, schnell einen Kräutertee bereiten, setzt es auf die Kochinsel – und schwups, ist es passiert.
Clemens Schiestl, Kinderarzt
Mit der Rega ins Kinderspital
Eine Tasse Tee vermag 10 bis 15 Prozent der Körperoberfläche eines Säuglings oder Kleinkindes zu verbrühen. Heisses Wasser oder Dampf von knapp über 50 Grad Celsius genügen, um die empfindliche Babyhaut massiv zu schädigen. «Eltern sind sich all dieser Gefahren oft nicht bewusst», gibt Clemens Schiestl zu bedenken.
Kinder wie der oben beschriebene Zweijährige werden dann mitunter mit der Ambulanz ins Kinderspital gefahren, manchmal sogar mit der Rega geflogen. Es muss schnell gehen, denn Verbrühungen schmerzen schrecklich. Im Krankenhaus wird das Kind erstversorgt – ab jetzt gilt es, die Wundheilung maximal zu unterstützen und die Infektionsgefahr zu minimieren.
Hautverpflanzungen oft nötig
Wer sich am Backofen schon einmal eine kleine Brandblase zugezogen hat, weiss, wie schmerzhaft und langandauernd eine Brandverletzung ist. Noch vor ein paar Jahren waren es bei thermisch versehrten Kindern insbesondere die täglich notwendigen Verbandswechsel, die Höllenqualen bereiteten. Die Prozedur ohne Narkose dauerte manchmal Stunden. Seit nachgewiesen wurde, dass der Verbandswechsel den Unfall an traumatischer Belastung noch übertrifft, werden die Kinder heute mit einem Medikament in einen kurzen Schlaf versetzt. «Zudem», erklärt Clemens Schiestl, «kann neueres Verbandsmaterial mittlerweile eine ganze Woche auf den Wunden verbleiben».
Jene kleinen Patientinnen und Patienten, die im Zürcher Kinderspital im Zentrum für brandverletzte Kinder aufgenommen werden, sind oft von einer zweitgradigen Verbrühung betroffen. Bei 30 bis 40 Prozent ist eine Hautverpflanzung notwendig – was einen Heilungsprozess über mehrere Monate bedeutet. Auch bei «kleineren» Verletzungen, etwa an der Hand, muss ein Kind manchmal bis zu vier Wochen im Kinderspital ausharren. Eine enorm lange Zeit für die Kleinen.
Ist eine Hauttransplantation notwendig, stehen die Ärzt:innen oft vor der Frage: Eigenhauttransplantation oder die Verwendung von künstlicher Laborhaut? Die Entscheidung hat einen Einfluss auf die langfristige Lebensqualität der Kinder.
Bei der Eigenhauttransplantation wird Haut von einem gesunden Körperteil entnommen und auf die versehrte Stelle verpflanzt. Diese Methode bietet eine natürliche Lösung und führt zu einer oft guten Heilung und Ästhetik. Ist das Kind grossflächig verbrüht, verbleibt dagegen wenig heile Haut, die transplantiert werden kann.
• Pfannen, Teekrüge und Tassen weit ab von der Tischkante platzieren.
• Keine Tischdecken benutzen.
• Hintere Herdplatten nutzen, Griffe der Pfannen nach hinten ausrichten.
• Kinder nie mit heissen Getränken unbeaufsichtigt lassen.
• Wasserkocher und Tauchsieder mit kurzen Kabeln verwenden.
• Befestigen von Herdschutzgittern.
• Kinder während des Kochens nicht auf die Küchenablage setzen.
• Vor dem Schöppelen den Inhalt des Fläschchens zur Kontrolle auf die Innenseite des Handgelenks tropfen lassen.
• Fläschchen und Brei aus der Mikrowelle gut umrühren und vorab selbst probieren.
• Während das Kleinkind in der Badewanne sitzt, kein heisses Wasser nachlaufen lassen.
• Darauf achten, dass Bettflaschen dicht verschliessbar sind.
Erste Hilfe
• Bei grossflächiger Verbrühung umgehend die Ambulanz (144) rufen.
• Kleidung sofort ausziehen, sofern diese nicht an der Haut klebt.
• 10–15 Minuten lang mit handwarmem (20 Grad) Wasser kühlen (kein kaltes Wasser, kein Eis, keine Coldpacks).
• Verbrühte Stellen wenn möglich mit einer sterilen Wundauflage abdecken.
• Cremen, Salben, Öle, Zahnpasta oder Mehl gehören nicht auf eine Verbrühungswunde. Wunde nicht berühren, Brandblasen nie aufstechen.
Eigenhaut versus Laborhaut
In den letzten Jahren wird intensiv zu künstlichen Hautalternativen geforscht. Im Labor kann Haut gezüchtet und eine Hautersatzlösung bereitgestellt werden, die den Heilungsprozess unterstützt und das Risiko von Infektionen verringert. Diese «Laborhaut» bietet eine Alternative für Fälle, in denen Eigenhaut nicht ausreichend verfügbar ist. Noch aber fehle der Nachweis, sagt Clemens Schiestl, dass die künstliche Haut der Eigenhautverpflanzung ästhetisch gleichgestellt oder besser ist. «Laborhaut» darf zurzeit höchstens dann benutzt werden, wenn Dreiviertel der Körperoberfläche verbrüht oder verbrannt ist. Zu einem verbrühten Kind gehören meist Eltern, Grosseltern oder andere Betreuende, die bei einem Unfall anwesend – und genauso schockiert – sind wie das Kind selbst. Clemens Schiestl begegnet ihnen oft im Spital, wenn sie aufgelöst und voller Selbstvorwürfe neben den Betten ihrer Kinder stehen: «Die meisten Eltern haben schreckliche Schuldgefühle und werfen sich vor, nicht besser aufgepasst zu haben», erzählt er. Im Kinderspital Zürich kümmere sich deshalb speziell geschultes Pflegepersonal und ein Psychologe um sie.
Vorsicht beim Inhalieren
Stimmt: Eine gewisse Vorsorge könnte man leisten als Eltern (siehe Box links). Aber die Unwägbarkeiten beim Leben mit Kindern sind nun einmal gross. Man kann nicht an alles denken. Zum Beispiel daran, dass Kinder sich auch beim Inhalieren gegen Erkältungen verbrühen könnten. Der Grund sind nicht die heissen Dämpfe, sondern das Kippen des Gefässes auf dem Tisch. Angesichts der nicht nachgewiesenen Effizienz vom Einatmen von ätherischen Ölen raten deshalb inzwischen viele Ärzt:innen vom Inhalieren ab.
Clemens Schiestl ist zwar mittlerweile offiziell pensioniert – trotzdem operiert er immer noch hin und wieder mit seinen Nachfolger:innen am Zürcher Kinderspital, oder er ist damit beschäftigt, zusammen mit der EU einheitliche Standards in ganz Europa für brandverletzte Kinder zu gewährleisten.
Wie aber hielt und hält er die Begegnung mit all den verbrühten und brandverletzten Kindern in all den Jahren aus? Das Leiden der Kleinen und der zuweilen schockierende Anblick? Gerade sie hätten es ihm oft einfach gemacht, sagt er. «Denn Kinder gucken meist nach vorne und laufen drauflos – wir müssen ihnen einfach nur folgen.»