Laura war neun, noch ein Kind, spielte abends mit ihrer Schwester Puppen und sass beim Fernsehen gerne auf Mutters Schoss, als das Essen zum Problem wurde. Karin P. (48), eine grosse Frau, elegant, himbeerrote Lederhosen, Strickpulli, hellblaue Augen, eine auf den ersten Blick starke und energetische Frau, sitzt am Küchentisch. Wenn sie nach den passenden Worten sucht, das zu beschreiben, was ihre Tochter in den letzten Jahren wie ein Dämon in die Fänge genommen hat, die Anorexie, dann wirkt sie plötzlich unsicher, angeschlagen, gezeichnet vom Kampf um ihr Kind, um ihre Familie. Alles ist sehr brüchig geworden. Wenn sie erzählt, streicht sie sich immer wieder eine dicke Haarsträhne vor den Augen weg, die sogleich wieder, wie ein Vorhang, dahin zurückfällt, wo sie war.
KARIN: «Es gibt ein Foto von Laura im Sommer, bevor die Krankheit ausbrach. Sie steht im türkisgrünen Badekleid neben ihrer Cousine am Pool. Ein fröhliches Kind, eine Wasserratte, ein bisschen kindlicher Speck ist noch da. Sie war immer ein grosses Kind, ein stämmiges, nicht dick, einfach ein grosses Mädchen. Damals am Pool, da hat sie noch geplanscht, gekreischt und gelacht. Ein halbes Jahr später lag sie im Spital, mit Schlauch in der Nase, zwangsernährt.»
LAURA: «Damals am Pool, da habe ich mich schon schlecht gefühlt. Meine Cousine sagte, sie sei zu dick. Das war ein ganz neuer Gedanke für mich.»
Laura (14) sitzt einen Stock höher in ihrem Teenager-Zimmer. Eine Wand ist lindengrün gestrichen. Darunter ein Bett, ein Pult, ein Schrank und überall kleine farbige Dinge, schön arrangiert. Laura ist sehr ordentlich, sehr diszipliniert. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem vielfarbigen Bettlaken und reibt sich über die langen Beine in weissen Jeans. Über ihrem Kopf grinst Justin Bieber. Sie mag Bieber und findet Sängerin Ariana Grande megahübsch. Wenn Laura redet, dann mit derselben leicht nasalen und warmen Stimme ihrer Mutter. Sie erzählt präzis. Aus ihren Sätzen flackern die vielen Therapiestunden. «Es ist noch nicht ganz so, wie ich es mir wünsche, aber es ist aushaltbar.» Begriffe wie Sondennahrung, Selbstbild, Mindestgewicht, Kalorien oder Zwangserkrankung verwebt sie ganz selbstverständlich in ihr Erzählen. Es sind die Begriffe, um die sich ihr Leben in den letzten fünf Jahren gedreht hat. «Ich weiss nicht, wie es wäre, wenn ich normal wäre», sagt sie und schaut aus dem Fenster.
LAURA: «Ich glaube es begann in der Turnstunde, in der dritten Klasse. ‹Rüebli ziehen› hiess das Spiel. Der beliebteste und sportlichste Junge musste mich an den Füssen über den Boden schleifen und sagte: ‹Mann, du bist megaschwer.›»
Von da an schwelte etwas in Laura. Sie hatte keine richtige Freundin und viele Selbstzweifel, und dieser Satz, der blieb. Sie wollte dazugehören, beliebter sein. Sie wollte hübscher werden.
LAURA: «Wenn ich heute zurückschaue, scheint es mir logisch, dass wenn man gross ist, ist man auch schwerer. Damals dachte ich nur, ich bin dick.»
KARIN: «Laura fing an, das Essen abzulehnen. Das will ich nicht, das ist mir zu viel. Es war noch nicht dramatisch, aber wir haben es registriert.»
Eine befreundete Kinderpsychologin meinte, das sei nur eine Phase, das gäbe es bei Kindern. Sie wollten schauen, wie die Mutter reagiere. Doch ein paar Wochen später brach die Krankheit aus, und dann ging es schnell. Laura ass jetzt nur noch zwei, drei Gabeln. «Ich habe schon gegessen.» Oder: «Mir ist schlecht.» Die Eltern reagierten verunsichert. «Bitte iss, bitte. »Aber Laura hatte die Macht, und alles lief aus dem Ruder.
KARIN: «Der Moment, an dem ich gemerkt habe, dass etwas gar nicht mehr stimmt, war, als sie ein Stück Brot von sich warf und sagte: ‹Lass mich!› Zum Brot. Das war eine Stimme in ihr, das war nicht sie. Ich dachte, irgendetwas muss passiert sein. Missbrauch? Dieses Kind war plötzlich nicht mehr mein Kind.»
Laura wurde still, traf keine anderen Mädchen mehr. Sie blieb zu Hause und las: Kochbücher. Nur noch Kochbücher, vor lauter Hunger.
KARIN: «Sie schlief abends mit einem Kochbuch in der Hand ein.»
LAURA: «Ich hatte schon von Magersucht gehört, wusste aber nicht, was da alles dazugehört. Ich wusste nur, dass ich mich verändern will. Und dass ich nicht essen will, weil ich schön sein will, das wusste ich.»
KARIN: «Innerhalb von zwei Monaten war sie in Lebensgefahr. Von 49 auf 23 Kilo runtergehungert. Bei Kindern geht es schnell.»
Ein halbes Weggli am Tag ass Laura noch, als sie ins Spital eingewiesen wurde. Sie war schwach, konnte nicht mehr Treppensteigen. Das Spital klärte sie ab, auch auf Missbrauch. Fachärzte für Psychiatrie stellten den Eltern Fragen. «Wie lange sind Sie verheiratet?» – «15 Jahre.» – «Wie oft wurde sie fremdbetreut? » – «Fast nie.» Und als sie ihr völlig entkräftetes, wehrloses Kind an jenem Abend in das Spitalbett legten, realisierten sie, dass ihr altes Leben weg war.
KARIN: «Während neun Jahren hatte ich Laura jeden Tag in meiner Nähe. Und jetzt musste ich sie alleine zurücklassen in ihrer Not, durfte sie von einem auf den anderen Tag nicht mehr sehen. Ich wusste nicht, wie mir geschieht. Aber wir hatten keine Wahl, bei uns wäre sie verhungert. Wir konnten ihr nicht das Essen reinstossen. Manchmal hiess es, es gehe ihr schlecht, sie weine. Aber wir durften nicht zu ihr. Dein Kind liegt irgendwo am anderen Ende der Stadt und weint und du kannst es nicht in die Arme nehmen.»
LAURA: «Ich dachte, ich bleibe eine Woche im Spital, damit ich wieder essen lerne. Aber dann ging es länger. Und bald steckten sie mir eine Sonde durch die Nase in den Magen, ich wurde sondenernährt.»
Lauras Zimmer war auf Stock J. Da wohnte sie, zusammen mit anderen Patienten. Psychisch Kranken, aber auch Blinddarm, Diabetes, Mandeloperation. An ihrem Rücken wuchsen Haare, ein Überlebenstrieb des Körpers, damit er nicht friert. Es gab eine Schule auf dem Stock und einen Werkraum. Da durfte sie hin, wenn sie ein bestimmtes Gewicht erreicht hatte. Jede Freiheit, jeden Spaziergang, jeden Besuch musste sie sich verdienen. Laura hatte Angst vor den Kalorien. Aber ein bisschen hat sie gegessen, damit sie nicht stirbt. Und ein bisschen, damit ihre Familie sie sehen durfte.
Und dann fingen die Zwänge an.
KARIN: «Eines Tages, ich war auf Besuch im Spital, ging Laura auf die Toilette und plötzlich hörte ich ein Klopfen. Ein rhythmisches, dumpfes Klopfen aus der Toilette. Ich öffnete die Tür: Da stand sie und sprang, an Ort und Stelle, auf und ab, wie ein Ball. Die Krankenpfleger erklärten mir, sie entwickle einen Bewegungsdrang, einen manischen. Wenn der Körper so lange hungern müsse, passiere etwas im Hirn, das sei bekannt. Das hätten auch hungernde Soldaten im Krieg, die bewegen sich. Auch das, ein Überlebenstrieb.»
Von da an sprang Laura. Stundenlang, mit leerem Blick. Und die Eltern standen daneben. «Bitte, hör auf, bitte.» Aber sie war weg. Sie war in fremden Händen.
LAURA: «In der Zeit war ich nur noch gequält, überall.»
KARIN: «Ihre Füsse waren wund vom Springen.»
Das Spital engagierte Studenten, die Laura festhielten, damit sie sich nicht die Gelenke kaputtmacht. Einmal hat sie sich die Füsse gebrochen beim Springen.
KARIN: «Mein neunjähriges Mädchen, das trotz all der Medikamente springt und springt.»
LAURA: «Die gesunde Laura wollte nicht springen, die kranke schon.»
KARIN: «Wenn wir abends telefonierten, weinte sie. Und gleichzeitig hörte ich, wie sie sprang. Im Gang. Sie sprang und weinte und sagte: ‹Hol mich hier raus.›»
Laura schlief mit den Beinen in der Luft. Und die Zwänge wurden mehr. Treppenlaufen, den Boden berühren, Zähneputzen. Eine Stunde lang Zähneputzen, mindestens. Oder Lesen, alles sieben Mal lesen, um den Tisch rennen, die Fensterstoren hoch und runterkurbeln, stundenlang. Zwänge können aufhören. Doch dann kommen andere. Jederzeit können neue auftauchen. Da gibt es keinen Halt. Laura streicht mit dem Finger über die kleine gelbe Blume auf der Bettdecke.
LAURA: «Heute lese ich alles nur noch zweimal, höchstens.»
Nach drei Monaten in Spitalpflege, Laura war jetzt zehn, wurde sie in die Kinderpsychiatrie verlegt.
KARIN: «Mein Kind in der Irrenanstalt? Nie, dachte ich, nie. Der Arzt sagte, es sei schön dort, es sei am Waldrand, es habe Pferde. Du kannst mich mal, dachte ich mir, mit deinen Pferden. Mein Kind kommt in keine Irrenanstalt.»
LAURA: «In der Klinik war es gut. Ich war gern dort. Sie arbeiten mit Stufen und Strafen. Das half mir. Ich brauchte eine Strafe, wenn ich nicht ass. So gab es keinen Ausweg und ich fühlte mich sicher. Zu Hause war alles viel emotionaler. Ich habe viel geweint. Aber im Innersten wusste ich, die Menschen dort sind die Einzigen, die mir helfen können.»
KARIN: «Jeden Abend bringen fremde Menschen dein Kind zu Bett. Erzählen ihm eine Geschichte vor dem Einschlafen.» Karin tupft mit dem Finger einen Krümel weg und atmet tief aus.