Liebe Kräuterhexe. Ich möchte ein Stein wo mir Flügel macht. Hast du so einen? Liebe Grüsse Marina.
Diese Zeilen hat Marina Lena Meier aus Wiesendangen (ZH) geschrieben. Als ihr Vater Basil Meier den Brief findet, ist Marina bereits seit acht Monaten tot. Sie ist am 1. Mai 2013 an Krebs gestorben. Sie war sieben Jahre alt. Den Brief hatte sie wahrscheinlich kurz vor ihrem Tod geschrieben und in ihre Pultschublade gelegt. Die Kräuterhexe war Marinas Begleiterin und Vertraute während ihrer schweren Krankheit. Erfunden hat die Figur Marinas Mutter Regula Meier, als alle verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte waren.
Dies ist eine traurige Geschichte. Doch es ist auch eine Geschichte, die von Mut erzählt, und von Hoffnung. Vom Mut, aussergewöhnliche Wege zu gehen. Dem Mut, ein geliebtes Kind gehen zu lassen. Und der Hoffnung, dass selbst in der dunkelsten Zeit irgendwo ein Licht aufflackert. Dass man irgendwann wieder ausgelassen lachen kann. Trotz allem. Oder erst recht.
Die Hexe
Es war an einem stürmischen Tag im Januar 2012. Zwei Monate zuvor hatten Basil und Regula Meier eine Diagnose erhalten, die ihr Leben für immer veränderte. Ihre damals fünfjährige Tochter war an einem Tumor erkrankt. Ein Neuroblastom der Niere. Die Eltern standen unter Schock. Das musste ein furchtbarer Irrtum sein.
An diesem stürmischen Tag im Januar sassen Regula und Marina Meier auf einem Bett in der Kinderkrebsstation «Planet Onko», wie die Abteilung im Kinderspital Zürich genannt wird. Marina hatte bereits Chemotherapien und eine neunstündige Operation hinter sich. Nun hatte der erste von acht weiteren, stationären Chemoblocks begonnen, mit jeweils bis zu zehn Tagen Spitalaufenthalt.
Marina war abgemagert, nur noch 15 Kiloschwer, ihre schönen, langen Haare waren ausgefallen. Sie war traurig, hatte keine Kraft mehr. Die Schmerzen setzten ihr zu, ihr fehlten ihre einjährige Schwester Lilly, der drei Jahre alte Bruder Till, die Katzen, der Hund, der Kindergarten, den sie so sehr liebte. Die Ärzte machten Druck, Marina müsse sich bewegen, viel essen, viel trinken. Doch sie konnte nicht und wollte nicht. Die Eltern versuchten, Marina zu motivieren, litten mit ihr, waren gestresst, verzweifelt.
An diesem stürmischen Tag beobachteten Mutter und Tochter die Bäume vor dem Fenster. Der Sturm zerrte an ihnen. Den starken konnte er nichts anhaben, die schwachen jedoch wurden durchgerüttelt und zu Boden gedrückt. «Was denkst du», fragte Regula Meier ihre Tochter, «welcher dieser Bäume bist du im Moment?» Marina sagte: «Ein schwacher. Ich möchte aber lieber ein starker sein, weil die schwachen all ihre Blätter verlieren, so wie ich meine Haare.»
«Da wurde mir klar, dass ich was tun musste. Marina sollte wieder lachen und sich freuen können. Sie brauchte etwas, damit es ihr psychisch besser ging», schreibt Regula Meier in ihrem Buch über die Geschichte ihrer Tochter.
Als Kind liebte Regula Meier die Fantasiegeschichten, die ihr Vater ihr erzählte. Vielleicht konnte genauso eine Fantasiefigur Marina helfen? In Regula Meiers Kopf entstand ein wildes und zugleich fürsorgliches Wesen, eine Kräuterhexe, die die Ängste und Nöte von sehr kranken Kindern kennt, die mit Tieren reden kann und die eine Verbindung zu bereits verstorbenen Menschen und Tieren hat. Die Figur war geboren. Regula Meier nannte sie Chrisanthemia.
«Hör mal», sagte die Mutter, «ich kenne da eine Hexe, die wohnt im Wald bei einer Zaubertanne, und die kümmert sich um schwer kranke Kinder. Ich habe ihr von dir erzählt und gefragt, ob sie dir helfen möchte. Und stell dir vor, sie hat Ja gesagt.» Marina riss ungläubig ihre Augen auf, erinnert sich die Mutter. «Ich erzählte ihr, dass die Hexe ihr einen Kraftstein bringen wolle und spezielle Tröpfchen gegen ihre vielen Tränen. Es war wunderschön zu sehen, wie aufgeregt Marina war, und so viel redete und fragte wie schon lange nicht mehr.»
«Darf man das?», fragte sich das Ehepaar später. Ist das nicht wie eine Lüge, ein Schwindel? Doch dann dachten sie an all die Märchen, die man Kindern erzählt. Wer hat denn Schneewittchen oder Rumpelstilzchen je gesehen? Marinas Strahlen, die wieder erwachte Lebendigkeit, wischten jeden Zweifel weg.
Mut und Trost
Die Hexe sollte eine Fantasiefigur bleiben und doch aktiv mit Marina in Kontakt treten. Regula Meier entschied, Marina im Namen der Hexe Briefe zu schreiben, Basil Meier sollte sie ihr vorlesen. Regula Meier schrieb den ersten Brief. Sie legte ihn in ein grünes Samtsäcken, füllte es mit Efeu und Tannennadeln und legte ihn vor die Haustür. «Als Basil den Kindern den Brief vorlas, wussten wir sofort, dass es funktioniert. Marinas Augen strahlten. Den Kraftstein für mehr Appetit hielt sie den ganzen Tag fest in ihrer Hand und ass so viel wie seit Langem nicht mehr», erinnert sich Regula Meier.
Es war der erste von insgesamt 12 Briefen, die Marina von der Kräuterhexe bekommen sollte. Immer dann, wenn es ihr besonders schlecht ging, wenn sie Angst hatte, verzweifelt war. Die Briefe enthielten verständnisvolle, tröstende und Mut machende Worte. Und immer war irgendwas dabei, was Marina gut tun sollte, eine duftende Creme gegen Bauchweh, Tropfen aus «Beeren und Mondlicht» oder ein Stoffeichhörnchen gegen die Angst. Chrisanthemia wurde Marinas Trösterin, Mutmacherin, sie brachte das Mädchen zum Lachen, war ihre Verbündete, mit der sie nachts flüsterte, der sie Dinge erzählte, die sie anderen nicht erzählen konnte oder wollte. Marina bedankte sich bei der Hexe mit Zeichnungen.
Im Juli 2012 begann die ambulante Chemotherapie. Marina besuchte trotz der Chemo sprühend vor Energie den Kindergarten. Sie war glücklich und als die Therapie beendet war, sahen die Prognosen gut aus. Es wurden keine neuen Krebszellen festgestellt.
Der Alltag kam ganz langsam zurück. Unbeschwerte Stunden waren wieder möglich, und die Eltern genossen es, auch wieder Zeit für Lilly und Till zu haben, die unter der Abwesenheit der grossen Schwester und der Eltern gelitten hatten. Fast wie eine ganz normale Familie fühlten sich die Meiers nun wieder. Leise schlich sich der Gedanke ein, dass jetzt vielleicht tatsächlich alles überstanden sein könnte. Doch die Angst sass im Nacken und eine Stimme, die flüsterte: Was, wenn es doch nicht gut kommt?
Der Rückfall
Es kam nicht gut. Am 20. Februar 2013, kurz nach Marinas 7. Geburtstag, stürzte die Welt endgültig ein. Die Kontrolluntersuchung ergab, dass der Tumor zurück war. Er hatte sich über mehrere Organe ausgebreitet. Die Frage, ob Marina sterben werde, beantworteten die Ärzte mit «Ja». Es gebe zwar die Möglichkeit einer Hochdosis-Chemo mit Bestrahlung und Stammzellentransplantation. Die Heilungschancen stünden jedoch bei 0,05 Prozent. Selbst wenn Marina es schaffe, würden schwere Folgeschäden wie Nervenstörungen, Organschäden, Angst, Depressionen, Zweittumore und Gehörlosigkeit ihr Leben begleiten.
Nach mehreren Gesprächen und Empfehlungen der Onkologen war sich das Paar einig: Wir hören auf. Eine solche Tortur wollten sie weder ihrer Tochter noch sich selber antun. «Wir hätten es nicht ertragen, wenn Marina irgendwann auf einem OP-Tisch gestorben wäre. Wir wollten, dass sie ihre letzten Monate noch so glücklich wie möglich sein kann.»
Die Eltern beschlossen, den Weg weiter mit der Kräuterhexe zu gehen. «Liebe Marina, (…) Ich weiss, dass du Schmerzen hast, und dass die bösen Zellen zurück sind. Du kannst immer mit Mami und Papi drüber reden (...).» «Darf ich weiterhin in den Kindergarten?», wollte Marina wissen. Und sie sagte: «Ins Spital gehe ich auf jeden Fall nicht mehr.» Diese beiden Sätze hatten für die Eltern grosse Bedeutung und bestätigten sie in der schweren Entscheidung.
Es folgten glückliche Tage und unfassbar schwere. Marina ging in den Kindergarten und traf sich mit Freunden. Sie durfte bei einer Bauernfamilie kleine Küken beim Start ins Leben beobachten, sie füttern und mithelfen, einen Stall für die Tiere zu bauen. Die Kräuterhexe schenkte Marina eine Babyzaubertanne, die sie in den Garten pflanzen durfte. Die Tanne wurde für Marina ein Zufluchtsort, oft sass sie da und sprach mit ihr. Worüber, das sagte sie niemandem. Die Familie traf sich mit Freunden zum Bräteln, Familienfeste wurden gefeiert, es wurde viel gelacht. «Doch das Bewusstsein, dass alles, was wir machten, das letzte Mal mit Marina war, das war unglaublich schwer», sagt Basil Meier.
Mitte April war Marina gezeichnet von den Schmerzen. «Der Tumor wurde immer grösser. Sie war sehr dünn, der Bauch war riesig. Wir wussten, jetzt wird sie bald sterben», so Regula Meier. Auch Marina war das bewusst. Einmal streichelte sie ihrer geliebten Katze, die Junge erwartete, den Bauch und sagte ganz ruhig: «Deine Jungen werde ich nicht mehr sehen.» Die Mutter musste das Zimmer verlassen, so sehr weinte sie.