Vaterzeit
«Und plötzlich sind wir nur wir zwei»
Unser Kolomnist Christian hatte vier Ferientage mit Partnerin, aber ohne Luule. Dass diese Übung ein Ziel hatte, erahnte er erst am Schluss.
Unsere Kinderkrippe bietet sogenannte Sleepovers an. Als ich erstmals davon hörte, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte: Spaziert da ein herausgeputztes Paar am Freitagabend lachend zur Kita, gibt das weinende Kind ab, schreitet alsbald ins elegante Restaurant ums Eck, wankt spätnachts beduselt ins Bett und am Samstagmorgen um 10 in die Kita? Vielleicht bin ich zu alt oder Luule noch zu jung dafür.
Tea, Luules Mami, findet das offenbar nicht. Und so plante sie, Luule während unserer Estlandferien für drei Tage bei ihren Grosseltern zu lassen und alleine weiterzuziehen. Bevor ich zu protestieren begann, dachte ich, dass es vielleicht wieder eine dieser Übungen für etwas Grösseres war, das später folgen und ich erst dann begreifen würde. Solche Trainings hatte es bereits gegeben. Warum sollte Luule, so fragte ich mich vor einem Jahr, eine Gabel benutzen, wenn sie doch sowieso nur mit der Hand essen kann? Oder warum sollte Luule damals Schuhe anziehen, obwohl sie doch noch keinen Fuss vor den anderen brachte?
Im Zug - ohne Luule
An einem Dienstag im März blieb Luule somit in der estnischen Stadt Tartu bei ihren Grosseltern, derweil Tea und ich in die Hauptstadt Tallinn fuhren. Noch beim Lunch hatte Tea ihrer Mutter Details zu Luules Essen erklärt, worauf ich sagte: «Luule kann doch nachher im Zug etwas haben.» Beide schauten mich an, als ob ich gerade meinen Teller nach Art von Luule auf den Boden geschmissen hätte.
Dann sassen wir im Zug – ohne Luule – und ich wusste nicht, was machen. Denn da lag leider kein Buch im Gepäck, hatte ich doch in den vergangenen Reisen mit Luule gelernt, dass es nichts bringt: Entweder kann ich nicht lesen, weil Luule wach ist – oder ich schlafe, weil Luule schläft. Nun wäre da eine traumhafte, zweieinhalb Stunden lange Ewigkeit der Stille und Einkehr gewesen. Da auch der Akku meines Handys leer war, schaute ich 150 Minuten lang mal grössere, mal kleinere Birken an und merkte: Ich vermisse Luule.
In Tallinn kauften wir rasch zwei Flaschen Wein und fuhren zu Luules Gotti. Kaum dort angekommen, sass ich auf dem Sofa mit ihren zwei Kindern und schaute deren sehr grosses Buch über Dinosaurier an. Der vier Jahre alte Junge und ich redeten kennerhaft über den Bronto- und den Tyrannosaurus rex, obwohl keiner auch nur ein Wort des anderen verstand. Die Dreijährige gestikulierte heftig mit. Wir hatten viel Spass, derweil Tea und ihre Freundin den mitgebrachten Sprudel bevorzugten.
Ich bin nachdenklich
Kaum war der aufgetischte Fisch gegessen, breitete man eine Art Eile-Mit-Weile-Brett aus, spielte Runde um Runde, bis das Brett vom Tisch flog. Nicht der Rede wert, hätte der Vierjährige für die Folgehandlung, eine kleine Böswilligkeit gegenüber der Schwester, nicht seine dritte Gelbe Karte kassiert, für die das Strafmass lautete: Comic-Video-Entzug am nächsten Tag. Das nun folgende Kinderdonnerwetter hatte ich nicht für möglich gehalten.
Da Tea ebenfalls als Gotti vor Ort war, konnten wir nicht eher nach Hause, bis sich die Lage beruhigt hatte. Ich wurde mit einem alten Cognac ruhiggestellt und machte mir meine Gedanken über das Leben mit Kindern. Am nächsten Abend erwartete uns das nächste Freundespaar und deren zwei Mädchen: 12 und 10 Jahre alt. Derweil wir am Tisch Champagner tranken und gesalzene Forelleneier assen, schaute die Jüngere Youtube-Filme – und ich mit einem Auge ziemlich fasziniert mit. «Ihr Englisch hat sie zu 50 Prozent aus dieser Beschäftigung», sagte die Mama stolz. Ich nickte nachdenklich.
Doch, wer nun glaubt, ich sei in Tallinn in einem «So machen es die anderen Eltern»-Workshop gewesen, irrt. Denn als wir Luule und die Grosseltern wiedertrafen, erkannte ich den Grund der «Übung». «Nun kann Luule bald bei uns die Sommerferien verbringen», riefen mir die Grosseltern zur Begrüssung freudig entgegen.