Elisabeth Real
Schicksal
Kämpfen um zwei Leben
Erst die Freude über das neue Leben, dann die Diagnose «Krebs» – ein Schock für Martina und Yann. Wie geht man damit um? Das junge Paar erzählt von der Zeit voller Ängste und Hoffnung.
Lynn, 1 ½, trippelt durchs Wohnzimmer und landet hell lachend in Yanns ausgebreiteten Armen, Martina sitzt am grossen Tisch und lächelt. Eine Familie wie im Bilderbuch. Doch so selbstverständlich wie es aussieht, ist das pralle und fröhliche Dasein zu dritt nicht. Denn es liegt eine bedrückende Zeit hinter Martina Weber, 33, und Yann Eberhard, 33.
Die Diagnose
Es war am Zügeltag, einem Samstag im November. Die beiden haben kurz zuvor ihre Traumwohnung gefunden, ein grosszügiges Zuhause am Stadtrand von Zürich, direkt an der Grenze zur Landwirtschaftszone. Draussen weiden die Kühe, Hochstammbäume tragen die ersten Äpfel. Perfekt für den Start ins Leben als Familie. Denn wenige Monate nach der Hochzeit im Frühling und den Flitterwochen leuchten beim Schwangerschaftstest im Juli die zwei ersehnten roten Streifen auf. Die Zukunft liegt als Abenteuer, als Versprechen in bunten Farben vor ihnen. Doch die Blutung an jenem Zügelmorgen lässt Martina zusammenzucken. Sie ist in der 21. Woche schwanger, das Baby darf auf keinen Fall schon kommen. Die beste Freundin fährt sie ins Stadtspital Zürich Triemli. Als die Untersuchungen in der Frauenklinik nichts Auffälliges ergeben, ist Martina beruhigt. Dem Baby fehlt nichts. Womöglich waren einfach die Kisten zu schwer, die sie in den letzten Tagen geschleppt hat.
Doch die Ärztinnen insistieren – sie wollen abklären, woher das Blut kommt. Schon während der Blasenspiegelung stellt der Urologe einen Tumor fest. Die Hiobsbotschaft folgt wenige Tage darauf: Das in der Blase wuchernde Gewebe ist bösartig und schnell wachsend. «Ich fiel ins Nichts», erzählt Martina. Ihr Blick schweift auf Felder und Bäume, im Hintergrund zieht sich der Himmel weit bis zum Horizont. Schicksalsschläge, das sind die betrüblichen Ereignisse, die den anderen widerfahren. Selbst wiegt man sich allzu gerne in der Gewissheit eigener Unversehrtheit. «Warum ausgerechnet ich?», fragt sich Martina. Blasenkrebs ist selten. Wenn, dann trifft es Menschen über 60, eher Männer als Frauen, Raucher:innen oder genetisch Vorbelastete. Doch keine junge Frau, die sich auf ihr erstes Kind freut.
Von onkologischer Seite erklärt man ihr, dass eine möglichst baldige Operation unumgänglich sei. «Es war keine Frage: Ich musste operiert werden», sagt sie. Fortan drehen sich die Gedanken und Gespräche bei ihr und Yann um Leben und Tod. Denn sie stehen vor einem bedrückenden Dilemma: Ein Eingriff an der Blase könnte Wehen und eine Frühgeburt auslösen. Martina ist mittlerweile in der 22. Schwangerschaftswoche – ein Kind gilt erst ab der 24. Woche als überlebensfähig. Ab diesem Zeitpunkt muss ein Spital in der Schweiz alles für das Überleben eines Kindes tun, selbst wenn dieses stark behindert sein würde.
Das Behandlungsräderwerk
Im Triemli beginnt ein eng getaktetes Zusammenspiel zwischen der Gynäkologie und Geburtshilfe, Urologie und Onkologie – ein Balanceakt, bei dem alle Akteure immer wieder neu und fein austariert entscheiden müssen, welches die nächsten Behandlungsschritte sein würden. Natalie Gabriel sitzt im 5. Stock in ihrem Büro und schildert das professionelle medizinische Räderwerk, das bei gynäkologischen Krebserkrankungen zum Laufen kommt. Die Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe am Triemli trifft sich in Fällen wie Martinas mindestens einmal wöchentlich an einem Tumorboard mit Kolleg:innen anderer Fachrichtungen. Sie kennt das Dilemma und tut sich niemals leicht mit Empfehlungen: «Aber wenn eine Behandlung absolut notwendig ist und nicht vereinbar mit einer Schwangerschaft, müssen Entscheidungen getroffen werden.» Natürlich immer zusammen mit den Eltern.
Aus ethischer Sicht darf das Leben der Mutter nicht gefährdet sein – was bei Martinas bösartigem Blasentumor jedoch der Fall war. Zugleich liegt die Blase so eng neben der Gebärmutter, dass bei einer Operation die Gefahr von vorzeitigen Kontraktionen besteht. Martina und Yann entscheiden sich schweren Herzens, es zu akzeptieren, wenn das Kind bereits in der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt käme. In diesem Fall wollen sie nicht um das Überleben des viel zu früh geborenen Babys kämpfen. Eine Entscheidung, die kein Mensch sollte treffen müssen. Die Gesundheit von Martina steht zu jenem Zeitpunkt im Vordergrund. Die Eltern halten sich an dem fest, dass – sollte das Schlimmste eintreten – die Aufgabe ihres Babys daraus bestanden hätte, seiner Mutter zu zeigen, dass etwas Bösartiges in ihr wächst.
Der Eingriff
Die bevorstehende Operation bedrückt Martina, der Gang ins Spital ist seelisch schwierig auszuhalten: «Trotz Beruhigungsmedikamenten hatte ich schreckliche Angst um das Leben meines Kindes.» Anfang Dezember liegt Martina im Operationssaal des Triemli. Durch die Harnröhre wird eine Kanüle in die Blase eingeführt, der Tumor an der Blaseninnenwand mittels Kamera und Skalpell abgeschabt. Da die Teilnarkose, die ein Ungeborenes besser erträgt, nicht genügt, muss Martina in Vollnarkose versetzt werden. Die Frauenärztin überwacht das Baby während der Operation ohne Unterbruch. Die gefürchteten Wehen bleiben aus. In der Küche hängt ein Foto der werdenden Eltern. Für das Bild engagierten sie eine professionelle Fotografin. Denn das wachsende Wunder in Martina festzuhalten, bedeutet ihnen in der dunkelsten Zeit viel: «Der Wunsch nach diesem Foto entstand in der ersten Nacht nach der Operation, als mir bewusst war, dass unser Kind überlebt hat», erzählt Martina.
Denn es sind noch nicht alle lebensbedrohlichen Hürden überwunden: Bei entsprechenden Eingriffen ist nach rund acht Wochen eine zweite, gleichartige Operation notwendig, um anhand von Gewebeproben sicherzustellen, dass alle Krebszellen entfernt wurden. Wieder folgen Wo chen, in denen sich zwei archaische Gefühle die Psyche streitig machen: Die Vorfreude auf das neue Leben, das in Martina heranwächst, und die Panik, der Krebs könnte nicht vollständig entfernt sein – oder gar gestreut haben. In dieser Zeit weint Martina oft lange in der Nacht, am nächsten Morgen kommt die Zuversicht zurück. Das Wissen darum, dass sie bald ein Baby haben würden, lenkt auch ab. Ein Kinderwagen muss gekauft, das Kinder zimmer eingerichtet werden.
Doch es gilt, erneut abzu wägen: Soll man einen weiteren Eingriff noch während der Schwangerschaft wagen? Oder das Kind schon früher holen, um baldmöglichst danach zu operieren? Gemein sam mit den Fachleuten entscheiden Martina und Yann sich für einen Mittelweg: Vier Wochen vor dem Termin soll die Geburt eingeleitet werden. Natalie Gabriels Schwerpunkte liegen bei der gynäkologi schen Onkologie und Senologie, sie betreut seit 20 Jahren auch Frauen wie Martina Weber. Die Chefärztin der Frauenklinik des Stadtspitals Zürich Triemli ist prag matisch und dennoch einfühlsam. Es gibt Begegnungen und Schicksale, die sie auch nach Arbeitsschluss noch be schäftigen. Trotzdem möchte sie betonen, dass lange nicht jeder Tumor lebensbedrohlich ist: «Viele Krebserkrankun gen sind heute heilbar und wir müssen vom Stigma wegkommen, dass Krebs während der Schwangerschaft absolut nicht sein darf.» Eine offizielle Statistik oder Dokumentation, wie viele Frauen während der Schwan gerschaft an Brust , Gebärmutterhals oder Blasenkrebs erkranken, gibt es nicht.
Die Psychoonkologie
Bei einer Krebsdiagnose in der Schwangerschaft arbeiten Frauenärztinnen, Radiologen und Onkologinnen eng ver zahnt zusammen. Sie suchen den besten Weg, den Tumor zu entfernen, oder zumindest zu verkleinern. Gleichzeitig kämpfen sie darum, das wachsende Leben im Bauch der Mutter zu schützen. Möglichst früh kommt auch die Psychoonkologie ins Spiel. Einer, der schon viele an Tumoren erkrankte Menschen begleitete, ist Alexander Wünsch, Professor für Psycho onkologie am Universitätsspital Bern und CoPräsident der Schweizer Gesellschaft für Psychoonkologie. Der Leiter des Psychoonkologischen Dienstes am Berner Insel spital sitzt in seinem Parterrebüro und erzählt von seiner Arbeit.
An Krebs erkrankte Schwangere zu betreuen, geht auch ihm besonders nahe: «Eine anstehende Elternschaft löst sowieso schon Sorgen und Ängste aus – zusätzlich eine Krebsdiagnose zu erhalten, ist mit überwältigenden Gefühlen verbunden.» Tränen, Zorn, Hoffnung, Angst vor dem Sterben – das erschüttert ein Paar zutiefst. Und ebenso das Umfeld: «Die Familie, Geschwister, Freunde – selbst die Fachpersonen im Spital reagieren betroffen.» Zum Glück löse die Betroffenheit oft Engagement für die junge Familie aus. Die Einbindung des sozialen Umfeldes sei ein zentraler Teil der Begleitung, erklärt Alexander Wünsch. Auch Martina und Yann sind eingebettet in eine liebevolle Familie. Ihre beiden Eltern helfen, wo sie können. Aber auch Freunde, Arbeitskolleg:innen und Vorgesetzte zeigen grosses Einfühlungsvermögen und Verständnis. Auch deshalb, weil die werdenden Eltern nie ein Geheimnis um die schwere Erkrankung von Martina gemacht haben. «Wir schätzen es, wenn uns die Leute offen ansprechen und nachfragen», sagt Yann. Die Diagnose Krebs ist zwar ein Schock, erst recht während einer Schwangerschaft. Ein Tabu daraus zu machen, statt Klartext zu reden, verschlimmert die Not. Das Leid zu teilen, bewirkt Mitgefühl.
Die Geburt
Vier Wochen vor dem Termin wird im Triemlispital bei Martina die Geburt eingeleitet. Am 10. März 2024, um 3 : 02, Uhr, verkündet Lynn mit kräftiger Stimme ihre Ankunft im Leben. «Ich hätte Bäume ausreissen können, so f it und glücklich fühlte ich mich nach der Geburt.» Doch eine ruhige und entspannende Kennenlernzeit gibt es für die junge Familie nicht. Drei Tage nach der Geburt muss Lynn notfallmässig auf die Neonatologie. Auch die nächste aufwühlende Nachricht kommt postwendend: Da bei der zweiten Operation eine Woche nach der Geburt noch immer Krebszellen in Martinas Blasenwand gefunden wurden, muss sie sich ein drittes Mal unters Messer legen. Danach aber kommt die Erlösung: Endlich sind alle bösartigen Zellen entfernt. Seit anderthalb Jahren macht Martina nun eine Immuntherapie, die das Rückfallrisiko deutlich senken soll.
Zwar musste sie deswegen aufhören zu stillen, umso mehr genoss sie die kurze, innige Zeit nach der Geburt, als Lynn problemlos an ihrer Brust nuckeln konnte. Die Zeit, die hinter ihnen liegt, brachte Martina und Yann psychisch und körperlich an ihre Grenzen. Aber es schweisste sie auch zusammen. Sie haben erfahren, dass sie sich angesichts existenzieller Ängste trösten und stärken können. Lynn habe eine neue Leichtigkeit in ihr Dasein gebracht, finden beide: «Unser Mädchen gibt uns Boden, wir haben ein Ziel im Leben.» Yann hält seine plappernde Tochter im Arm und schaut dankbar zu Martina: «Ich habe eine genesene Frau und ein gesundes Kind – was will ich mehr?»
