Neurodermitis
Neurodermitis: Wie Kinder lernen, mit dem Juckreiz umzugehen
Eine Neurodermitis-Schulung hilft, die chronische Krankheit besser zu bewältigen. Denn das lästige Jucken von Neurodermitis bringt nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern zur Verzweiflung. Eine Reportage.
Eigentlich scherzen und blödeln Phil und Bo am liebsten. Doch jetzt sitzen die beiden Handpuppen artig vor den Kindern und den Eltern. Phil ist ein sympathisches Kerlchen und hat eine juckende Neurodermitis, und sein bester Freund, Bo, ist ein Hund. Die Referentin liest aus einem Kinderbuch vor.
Es geht um das Mädchen Carmelita, das Neurodermitis hat. Die Kleine trägt meistens eine knallgelbe Badehose, die ihr wegen der ständigen Juckerei am angenehmsten ist. «Geht ihr auch in der Badehose in den Chindsgi?», fragt Phil seine kleinen Zuhörerinnen, sieben Mädchen zwischen fünf und acht. «Nein», tönt es laut zurück. Die Eltern daneben schmunzeln. So beginnt die Neurodermitis-Schulung der Stiftung aha! Allergiezentrum Schweiz in Bern.
«Diesmal haben die Kinder Vorrang, denn die Eltern konnten während der Pandemie zumindest online geschult werden. Oder sie nehmen noch teil», erklärt die Schulungsleiterin und ausgebildete Pflegefachfrau Bettina Ravazzolo von aha! Allergiezentrum Schweiz. Unterstützt wird sie dabei von den zwei Referentinnen, Vroni Fankhauser und Candice Debons, beide erfahrene Kinderlagerleiterinnen vom Allergiezentrum.
Jedes 5. Kind hat Neurodermitis
Neurodermitis ist eine chronische, nicht ansteckende Hautkrankheit. Sie wird durch viele Faktoren wie etwa genetische Veranlagung, aber auch Umwelteinflüsse wie Stress oder Wetter verursacht. Ungefähr 20 Prozent der Kinder in der Schweiz und rund 5 Prozent der Erwachsenen haben Neurodermitis – in der Fachsprache atopisches Ekzem. In der westlichen Welt tritt die Krankheit häufiger auf. Bei vielen verschwinden die Symptome im Kleinkindesalter wieder. Eine Neigung zu Neurodermitis bleibt jedoch lebenslang.
Generell kann Neurodermitis in jedem Alter erstmals auftreten, seltener hingegen bei Erwachsenen. Die Betroffenen leiden unter trockener Haut, Ekzemen bis nässenden Hautstellen, begleitet von starkem Juckreiz. Die Krankheit verläuft in Schüben. Die Symptome klingen bei richtiger Behandlung wieder ab.
Zur Neurodermitis-Schulung kommen Eltern auf Empfehlung durch ihre Kinderarztpraxis, die Mütter-Väterberatung oder das Beratungstelefon «aha! infoline». «Einen halben oder einen Tag zu investieren, ist für die meisten Eltern nicht zu viel Aufwand, wenn sie wissen, wie sie ihrem Kind den Alltag erleichtern können», sagt Bettina Ravazzolo.
Die Schulung vermittelt den Eltern viel Wissen und führt generell zu einer Verbesserung der Situation. Teilnehmende berichten, das Kind sei danach kooperativer bei der täglichen Basispflege, habe einen besseren Umgang mit dem Juckreiz und schlafe besser.
Was bei Neurodermitis hilft
Nach einer Begrüssungsrunde wechseln nun die Kinder mit Phil und Bo in einen separaten Raum, während die Eltern für einen fachlichen Input und Erfahrungsaustausch zusammenbleiben. Ein volles Programm wartet an diesem Nachmittag auf die Kinder. Es kommen Themen zur Sprache wie: Die Besonderheit der Neurodermitis-Haut, Hautpflege, was tun, wenns juckt, Entspannen oder selbstbewusst mit Neurodermitis umgehen.
Wie vermittelt man einen solch anspruchsvollen Stoff kindergerecht? «Vor allem spielerisch», sagt Bettina Ravazzolo. Alles dürfen die Kinder selber erleben und erfahren, auch Massagen und Traumreisen. Die Handpuppen Phil und Bo helfen, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, Themen anschaulich zu machen und viele Tipps und Tricks zu vermitteln.
Inzwischen sitzen die Mädchen mit je einem leeren, grünen Rucksack vor sich auf einer grossen Decke am Boden und blicken erwartungsvoll auf Phil und Bo respektive die beiden Referentinnen. In den kommenden Stunden werden die Kinder versteckte Gegenstände aufspüren und in ihren persönlich beschrifteten Rucksack einpacken. Alles nützliche Dinge, die es den Kindern künftig erleichtern sollen, mit der Krankheit zu leben. Am Ende haben sie in ihrem gefüllten Rucksack: eine coole Creme-Flasche, einen Massageball, Coldpack, Mutball, Stressball, eine Mappe mit Erklärungsbildern und vieles mehr.
Es beginnt mit der Hautpflege. «Die Haut hat ‹Hunger› und muss gefüttert werden», erklärt Candice Debons das Funktionieren der Haut. «Wer von euch cremt sich selber ein?», will sie wissen. «Ich», ruft die aufgeweckte Anna (5). Sie stellt sich auch gleich als «Versuchskaninchen» zur Verfügung.
Debons demonstriert an Annas Unterarm, wie man die Haut beispielsweise über Nacht «füttert». Abends trägt man eine dicke Cremeschicht auf. Dann stülpt man einen feuchten Gaze-Schlauch darüber, und anschliessend kommt noch ein Langarm-T-Shirt darüber. Später verrät auch Handpuppe Phil seine Tricks: «Wenns mal ganz schlimm ist, drücke ich mit den Fingern mehrere Sekunden ganz fest auf die juckende Stelle oder lege ein Coldpack drauf.»
«Hauptziel der Kinderschulung ist es, dass die Kinder die Bedürfnisse ihrer Haut verstehen. Und lernen, was bei Juckreiz hilft», sagt Bettina Ravazzolo. Dazu gehört eine regelmässige Hautpflege und wie diese in den Alltag eingebaut werden kann. Ebenso soll das Selbstbild der Kinder verbessert werden, im Sinne von: «Ich bin anders als andere Kinder, aber das ist auch gut so. Und ich kann das auch anderen erklären.» Der volle Rucksack vermittelt den Kindern überdies das Gefühl, dass sie eigenständig mit der Krankheit umgehen können.
Die Krankheit annehmen
Zum Schluss des Nachmittags bereiten die Kinder für die Eltern ein kleines Znacht vor, es wird auch gesungen zu Andrew Bond, der einen Song für die Schulung geschrieben hat. Und die Kinder hören das Happyend der Carmelita-Geschichte. Carmelita darf jetzt ein fröhliches Mädchen mit Badehose sein.
In den grünen Rucksack kommt auch noch ein Exemplar dieses Buchs. Ob gelbe Badehose, Coldpack oder Stressball: Die Kinder haben viele Anregungen erhalten, wie sie selbst ihre Hautkrankheit annehmen und damit umgehen können. Nach einem letzten Knuddeln mit Phil und Bo gehts wieder nach Hause.
Mehr über Neurodermitis erfahren, live und digital
- Schulungen und Beratung für Familien:
Das «aha! Allergiezentrum Schweiz» führt je eine Schulung pro Jahr an den Standorten Bern, Zürich, Luzern durch, normalerweise parallel für Eltern und Kindern. Die Schulung umfasst sowohl einen theoretischen als auch einen praktischen Teil. Themenschwerpunkte sind:
♦ medizinisches Hintergrundwissen zum atopischen Ekzem
♦ Behandlung und Therapie der Ekzeme
♦ Umgang mit den Herausforderungen im Alltag (für das betroffene Kind, die Eltern und Geschwister).
Die Kurskosten betragen 180 Franken. Zusätzlich zur Schulung können die Eltern eine individuelle Beratung mit einer Pflegeexpertin in Anspruch nehmen.
Mehr Informationen unter: aha! Allergiezentrum Schweiz, 031 359 90 00, ➺ aha.ch
- Mit künstlicher Intelligenz
Das Start-up Nala will die grösste digitale Neurodermitis-Community in Europa aufbauen. Nala wurde von Swissmedic als Medizinprodukt offiziell registriert. Das Ziel der Köpfe hinter Nala ist es, die Zeit von der Neurodermitis-Diagnose bis zu einer glücklichen Haut von vielen Jahren auf wenige Monate abzukürzen. Gearbeitet wird auch mit künstlicher Intelligenz, um personalisierte Empfehlungen basierend auf neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen und offiziellen Therapie-Leitlinien abgeben zu können. ➺ nala.care
Neurodermitis behandeln: drei Mütter erzählen
Lea Riesen (34) mit Anna-Sophia (5)
Kurz nach der Geburt begann es. Anna wurde rot und entzündet, besonders im Gesicht. Es sah ‹wüescht› aus. Anna selber hat es lange nicht gestört, mich aber. Zentral in der Neurodermitis-Behandlung ist ja das Kortison. Und dagegen habe ich mich lange gesträubt – wegen der Nebenwirkungen.
Als ich es dann zuliess, war die Haut innert einer Woche wieder recht schön. Trotzdem, da Kortison auf Dauer nicht angewendet werden darf, sind zusätzlich eine tägliche Basispflege und viele Tricks nötig: keine synthetischen Kleider auf der Haut, eigene Bettwäsche in den Ferien, Javelund Ölbäder und, und, und …
Anita Christen (33) mit Noemi (5)
Mit Beginn der Beikost ab dem vierten Monat trat die Neurodermitis erstmals auf. Betroffen waren zuerst einzelne Stellen wie Knie-, und Armbeugen oder Fingerknöchel, die gejuckt haben. Bis vor kurzem ebenso Gesicht und Hals, zwischendurch auch der ganze Körper sowie der Intimbereich. Das ist aber wieder gut. Der Zeigefinger konnte zeitweise gar nicht abheilen, da er immer wieder in den Mund wanderte.
Die Behandlung ist intensiv: Jeden Tag eine kurze Dusche mit einem hautfreundlichen Zusatz, morgens und abends den ganzen Körper eincremen. Regelmässig abduschen, um die Cremereste zu entfernen. Nachts benötigte Noemi zeitweise auch Antihistamin gegen ihre Allergie, sodass der Juckreiz geringer war und sie schlafen konnte. Heute geht es ihr insgesamt viel besser.
Katharina W. (37) mit Vida (5)
Vida hat seit dem dritten Lebensmonat Neurodermitis. Zuerst gab es einen Ganzkörper-Ausschlag. Der stand jedoch im Zusammenhang mit einer Milch-Eiweiss-Intoleranz. Mittlerweile sind die Arm- und Kniebeugen regelmässig betroffen, schubweise auch Gesicht und restlicher Körper. Mal ists besser, mal schlechter.
Wenn die Schübe sehr stark sind, behandeln wir mit Kortison. Zudem cremen wir einmal täglich den ganzen Körper ein, als Basistherapie. Wir sind aber immer wieder verunsichert, weil nicht klar ist, was die Ursachen für die Schübe sind und ob sich der Hautzustand durch die Cremes der Basistherapie verschlimmert oder verbessert.
Gesundheit, Medizin und die Menschen dahinter haben Stefan Müller schon immer fasziniert. So kam es, dass er seine Geschichten in den vielen Jahren als freier Journalist gerne in diesem Umfeld ansiedelt. Seine Familie mit zwei schulpflichtigen Kindern inspiriert ihn dabei stets von Neuem.