Aufklärung
Mama, was ist Sex?
Seine Kinder aufzuklären, bedeutet nicht nur, mit ihnen über Biologie zu reden. Dazu gehört einiges mehr. Und in jedem Alter etwas anderes.
Fallbeispiel, 3 Jahre
Die dreijährige Mina hat mit ihrer gleichaltrigen Freundin ein neues Lieblingsspiel entdeckt: füdliblutt ausziehen. Ausserdem sagt sie plötzlich Sätze wie «Maitli haben keine kurzen Haare» oder «Rosa dürfen Buben nicht tragen». Die Eltern wundern sich: Woher bloss kommt das klischeehafte Denken?
Dreijährige wie die kleine Mina sind neugierig und erforschen alles. Gleichzeitig werden sie sich in dieser Entwicklungsphase ihres eigenen Körpers deutlicher bewusst und ihre Wahrnehmung wird differenzierter. Sie registrieren: Aha, an der Hand angefasst zu werden, fühlt sich auf der Haut ganz anders an als Kitzeln am Bauch. Eine spannende Entdeckung. Auch kennen Kleinkinder noch keine gesellschaftlichen Normen im Umgang mit Körperlichkeit. Sie spüren ihren Körper einfach gern und sie zeigen ihn auch gern. «Dökterlen und sich dabei auszuziehen, ist in dieser Phase vollkommen normal», sagt Simone Dudle, Sexualpädagogin und Sexualtherapeutin aus St. Gallen. Minas Doktorspiel sei zudem für die Eltern eine gute Gelegenheit, ihrer Tochter zu signalisieren «der Körper macht Spass, ist wertvoll und schützenswert» und gleichzeitig dieses arglose kindliche Spiel – das mit zielgerichteter Erwachsensexualität nichts zu tun hat – für ein Gespräch zu nutzen. «Das Dökterlen ist ein guter Aufklärungs-Anlass», sagt Simone Dudle. «Etwa kann man daran gut erklären, dass Berührungen etwas Schönes sind. Allerdings nur dann, wenn beide das mögen.» Auch böte es sich jetzt an, darüber zu reden, dass Nacktheit etwas Privates sei und einen geschützten Raum brauche.
• Klar, Eltern klären auf. Doch wichtig ist, dass sie sich selbst damit wohlfühlen und authentisch sind. Beispiel: Das Dreijährige will auch bei Mama oder Papa mal schauen, wie die so «untenrum» aussehen. Geht das okay? Dann könnten die Eltern etwa sagen: «Wenn ich nächstes Mal dusche, darfst du schauen.» Genauso okay ist es aber auch, stattdessen zu sagen: «Das möchte ich jetzt nicht so gern, aber wir können das in deinem Körper-Büchlein anschauen, wenn du willst.»
• Dökterlen ist normal. Jedoch nur, wenn der Altersabstand zwischen den Kindern weniger als drei Jahre beträgt. Sonst: einschreiten!
• Jede Frage braucht eine Antwort. Je jünger das Kind, desto kürzer und einfacher.
• Bis zum Kindergarteneintritt sollten Kinder die korrekten Bezeichnungen ihrer Geschlechtsteile kennen. Das schliesst nicht aus, dass man innerhalb der Familie dafür andere Wörter benutzen kann. Dass es sich dabei um «Familienbezeichnungen» handelt, muss das Kind aber wissen.
• Die Sache mit dem Storch ist doch hoffentlich vom Tisch? Das Kind hat das dennoch aufgeschnappt? Einordnen. In den Bereich der Märchen.
• Körperöffnungen für Ausscheidungen sind andere als diejenige, aus der das Baby kommt. Erklären! Ja, schon Dreijährigen.
• Bilderbücher zum Thema sind toll. Sie befriedigen Neugier – und bieten Gesprächsanlässe.
Und was ist nun mit Minas stereotypem Denken? Woher hat sie diese Klischees aus der Mottenkiste? «Ach, da muss man sich keine Sorgen machen», lacht Simone Dudle. Mina sei einfach eine für ihr Alter besonders gute Beobachterin. Kinder zwischen drei und fünf Jahren versuchen nämlich, die ihnen noch fremde Welt zu sortieren, und zwar anhand von Regelmässigkeiten, die sie in ihrem Umfeld wahrnehmen. Das gibt ihnen Sicherheit.
Eltern könnten diese Statements wieder für ein Gespräch nutzen, findet Simone Dudle. Etwa darüber, dass manche Menschen eine Vagina und Vulva haben, andere einen Penis, dass es aber auch Menschen gibt, die sich in diesen beiden Schubladen nicht zu Hause fühlen und Haarlängen, Röcklitragen und Vorlieben jedem Menschen selbst überlassen werden sollten. «Dass Vielfalt etwas Positives ist», so Simone Dudle. «Das verstehen Kinder sofort.»
Fallbeispiel, 6 Jahre
Maurus ist sechs Jahre alt. Sein neustes «Mödeli»: Ärgert er sich über jemanden, beschimpft er sein Gegenüber gerne als «Du Schnäbi!» oder Ähnliches. Küssen sich im Fernsehen zwei Leute, schreit er laut «Wääääh!». Dabei ist sein Elternhaus eigentlich gar nicht prüde.
Sechsjährige registrieren sehr genau, womit sie Aufmerksamkeit erregen können und welche Wörter spannende Reaktionen bei den Erwachsenen hervorrufen. Da kommt doch mal Stimmung in die Bude ! Das gibt ein Gefühl von Macht und wird natürlich erprobt. «‹ Scheisse ! › sorgt ja heutzutage eigentlich nicht mehr dafür, dass sich irgendwer aufregt», erklärt Simone Dudle, «bei einem kräftigen ‹Du schwule Sau› sind die Effekte schon spektakulärer.» Maurus verhält sich mit seinen Kraftausdrücken also völlig normal. Gleichzeitig sei es wichtig, so Simone Dudle, dass die Eltern solche Äusserungen nicht durchgehen liessen und auch nicht einfach nur schimpften. «Vielmehr kann man jetzt darüber reden, dass ‹Schnäbi› – oder welches Körperteil auch immer – nicht so gut zum Schimpfen geeignet sei, weil der Körper doch etwas Schönes sei.» « Vielleicht », so Simone Dudle, « fällt dem Kind ja ein kreativeres Schimpfwort ein? Wie wärs mit ‹ du matschige Tomate › ? Oder ‹ du bleicher Holzwurm›?» Bei «schwule Sau», so die Sexualpädagogin, müsse man dagegen etwas mehr in die Tiefe gehen.
• Ab dem Schulalter ist es wichtig, dass die Kinder wirklich verlässlich die korrekten Bezeichnungen für die Geschlechtsteile kennen.
• Dass es sich in der Entwicklungsphase bis zur Pubertät um eine «Latenzzeit» handelt, in der in Sachen Sexualität nichts passiert, gilt heute überholt. Aber: die Kinder behalten jetzt häufiger Dinge für sich.
• Theoretisch verstehen Kinder jetzt vieles an der Sexualität, vom erwachsenen Tun und Fühlen sind sie aber weit entfernt. Das verstärkt das Vergnügen daran, verbal Grenzen auszuloten.
• Jetzt reicht es nicht mehr zu wissen, dass Babys «aus dem Bauch» kommen. Dass es dazu Samen und Ei braucht, sollte geläufig sein. Auch Gefühle sind jetzt ein grosses Thema. Hörspiele und Bücher zum Thema gehören ins Kinderzimmerregal.
• Kinder in diesem Alter sind exzellente Beobachter. Wie gehen die Eltern miteinander um? Welches Verhältnis haben sie zu ihrem Körper? Achtung: Das wird prägen.
Etwa darüber sprechen, was das eigentlich ist «schwul» und auch darüber, dass es nicht okay ist, andere Menschen zu diskriminieren und zu beleidigen. Kinder ab dem Schulalter verstehen so etwas sehr gut. Sie sind jetzt in einer Phase, in der die Kognition stärker in den Vordergrund tritt. Sie stellen präzisere Fragen – weil sie an sexuellem Wissen höchst interessiert sind – und sollten insofern auch präzisere Antworten erhalten. Gleichzeitig beginnen sie, sich stärker von Erwachsenen abzugrenzen.
Sieht Maurus also Erwachsene, die sich küssen, findet er das «mega gruuusig», weil er instinktiv spürt, dass diese Erwachsenensexualität etwas ist, das mit seinen Kinder-Empfindungen nichts zu tun hat. Gleichzeitig hat er schon erste Erfahrungen mit schönen Gefühlen durch Berührungen gemacht. Es ist also sehr gesund, dass er deutlich die Grenze zieht zur Erwachsenensexualität. Schulkinder registrieren die Ambivalenz von Sexualität: Gut mit den Richtigen. Schlecht mit den Falschen.
Simone Dudle, Sexualpädagogin
Fallbeispiel, 12 Jahre
Finn geht in die 6. Klasse. Wie alle Zwölfjährigen hängt er viel am Handy oder am Computer. Die Eltern fragen sich jetzt, ob sie von sich aus das Thema «Pornografie» ansprechen sollen oder ob das endpeinlich ist, ja, vielleicht sogar irgendwie übergriffig.
Sobald Kinder das erste Handy bekommen, wird auch Pornografie zum Thema. Und sollte in diesem Zusammenhang auch von den Eltern zumindest kurz gestreift werden. «Dann wird es nicht so oberpeinlich», sagt Simone Dudle. Etwa sollten die Eltern erklären, dass sie ins Telefon eine Sperre für bestimmte Seiten eingebaut haben, weil sie das Kind lieben und es schützen wollen. Und zwar vor Darstellungen, die verstörend sein könnten. Doch Sperre hin oder her: Jugendliche von heute werden dennoch mit Pornografie in Kontakt kommen. «Um das Thema aufzugreifen, bietet sich als ‹unpeinlicher › Anlass an, über die juristischen Folgen zu reden, wenn etwa Pornos oder Nacktbilder von sich selbst weitergeleitet werden. Beides ist nämlich in diesem Alter strafbar.»
Und was ist mit den Erwartungen, die durch solche Filme geweckt werden? Denkt der Teenie dadurch nicht schon vor dem ersten Mal, im Bett müsse stets eine besonders spektakuläre Performance geboten werden? Was ist mit unrealistischen Darstellungen und Körpern, die so ganz anders aussehen als der eigene? «Generell können Jugendliche sehr gut unterscheiden zwischen Realität und Fiktion», sagt Simone Dudle.
• Emotional mit dem Heranwachsenden in Kontakt bleiben, auch wenn der Jugendliche die Eltern gerade häufig zurückweist.
• Diskretion bitte!
• Bücher zum Thema Aufklärung, Sexualität und Verhütung sind wieder Mal Trumpf.
• Beschämen des Jugendlichen nicht mit elterlicher Lockerheit verwechseln!
• Zeit gemeinsam mit dem Teenie einplanen. Vielleicht ergibt sich dann ein zwangloses Gespräch.
• Auch Eltern dürfen sich abgrenzen, wenn sie sich nicht wohlfühlen. Es ist kein Muss, auch die allerpersönlichsten Fragen zu beantworten. Jeder hat ein Recht auf Intimsphäre. Sogar Mütter und Väter.
«Zumindest, wenn sie gelernt haben, sich wahrzunehmen, über Gefühle reden können und Vorbilder hatten, die miteinander zärtlich umgingen.» Müssen Eltern das thematisieren? «Nein», findet sie. Zwar sei es gut, wenn Eltern stets als Ansprechpartner zur Verfügung stünden, «aber Gespräche über Solo-Sex oder Pornos seien besser bei externen Sexualpädagog:innen in der Schule aufgehoben».
Die wenigsten Teenager wollen so etwas mit Mama oder Papa besprechen. In dieser Phase sei von den Eltern Zurückhaltung und Diskretion gefordert. Vielleicht könne man mal auf Augenhöhe anhand von Instagram oder Youtube-Videos über Themen rund um die Sexualität und Verhütung diskutieren. Aber jetzt heisst es für Eltern: Vertrauen. Vertrauen in das eigene Kind. Vertrauen darauf, dass man das Kind bis dahin bestmöglich begleitet hat. Und: Bitte keine Kondome aufs Kopfkissen legen. Das ist oberpeinlich. «Obwohl», lacht Simone Dudle: «Eltern dürfen auch mal peinlich sein. Das gehört zum Job.»