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Corona und Kinder
Kinderärztin gibt Ratschläge für den Coronawinter
Dürfen Kinder mit Schnupfen in die Kita oder zur Schule? Können Eltern zwischen Covid-19-Erkrankung und einer normalen Erkältung unterscheiden? Sollen Kinder die Grippeimpfung erhalten? Julia Bielicki, Kinderärztin und Infektiologin am Universitäts-Kinderspital beider Basel, kennt die Antworten.
wir eltern: Frau Bielicki, schauen Sie als Pädiaterin und Mutter mit Sorge auf den kommenden «Coronawinter»?
Julia Bielicki: Ich erwarte nicht, dass der Winter besonders schlimm wird. Für Eltern waren Schnupfen oder Husten der Kinder schon immer eine Herausforderung, mit Corona wird das gar nicht so viel anders werden. Wir Ärzte müssen allenfalls mit einer grösseren Beanspruchung der vorhandenen Ressourcen rechnen.
Eltern sorgen sich aber gerade jetzt über jeden Schnupfen und jedes Kratzen im Hals ihres Klein- oder Schulkindes. Wie erkennen sie, ob es sich dabei um eine normale Erkältung, eine Grippe oder gar Covid-19 handelt?
Es gibt keine Schwarz-Weiss-Kriterien. Auch ich als Ärztin kann das nicht einfach so beurteilen. Hatte das Kind aber Kontakt mit einer positiv auf Covid-19 getesteten Person – das kann der Kita-Betreuer, die Kindergärtnerin oder der Sportlehrer sein –, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es infiziert wurde. Aber die Vorstellung, es sei möglich, alle Kinder mit Covid-19 zu identifizieren, ist illusorisch. Zumal Kinder meist milde Symptome aufweisen.
Angenommen, mein Kind hat einen leichten Schnupfen – wer verfügt dann über die Entscheidungshoheit, ob es in die Kita darf oder am Unterricht teilnehmen? Der Lehrer? Die Eltern? Die Kinderärztin?
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt, Kinder mit trivialem Schnupfen weder auf Covid-19 testen zu lassen, noch von der Schule auszuschliessen. Weil aktuell aber für Gruppen wie Schulen, Betreuungseinrichtungen oder Familien jeweils unterschiedliche Empfehlungen zur Verfügung stehen, herrscht Verwirrung…

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Julia Bielicki (42) ist Pädiaterin, Infektiologin und Oberärztin am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB). Als ärztliche Leiterin Spitalhygiene wurde sie seit der Covid-19- Krise sozusagen zu Mrs. Corona innerhalb der Hygienekommission des Spitals. Julia Bielicki lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen (zwei- und vierjährig) in Binningen.
…und führt zu inkonsistenten Anweisungen und Regelungen.
Die aktuelle Version der BAG-Empfehlungen geht dahin, dass Kinder nur dann zu Hause bleiben sollen, wenn sie so krank sind, dass sie schlicht nicht zur Schule können. Genau wie vor Corona! Damals schickte man Kinder mit Fieber oder Atemnot, mit Durchfall oder Erbrechen auch nicht zur Schule. Ob das Kind am Coronavirus erkrankt sein könnte, müssen die Eltern mit dem Kinderarzt klären. Die Hoheit zum Schulausschluss sollte demnach – wie bis anhin – vor allem bei den Ärzten liegen. Sie sind es, die Atteste ausstellen.
Kinder erkranken pro Jahr rund siebenmal an einer Erkältung oder Grippe. Wegen Corona verlangen manche Schulen aktuell eine zehntägige Quarantäne/Selbstisolation. Das bedeutet 70 Tage Hausarrest! Da geraten Eltern organisatorisch in einen Schlamassel.
Ich verstehe die Herausforderung für die Familien bestens, ich kenne sie ja selber! Man macht sich Sorgen um das kranke Kind, gleichzeitig muss man im Job einen Ersatz finden und sich zu Hause organisieren. Das ist eine Riesenbelastung. Aber auch Lehrer und Betreuungspersonen sind belastet. Auch sie haben im Moment keine klaren Handlungsempfehlungen, und sie müssen zusätzlich die Verantwortung für Kinder übernehmen, die nicht die Ihrigen sind. Wir sind alle gezwungen, auf etwas zu reagieren, das wir nicht kennen.
Coronabambini: Das ist eine Online-Abfrage zum Coronavirus beim Kind, die das Inselspital Bern zur Verfügung stellt. Die Abfrage hilft Eltern zu entscheiden, ob ihr Kind zur Schule, in den Kindergarten oder in die Kita kann, wenn sie nicht wissen, ob es am Coronavirus erkrankt ist. Man klickt sich durch ein paar Fragen und bekommt Empfehlungen bezüglich Coronatest, Schulbesuch und weiterer Schritte. Das Tool basiert auf den Richtlinien des BAG.
Bei der saisonalen Grippe oder Erkältungen sind Kinder wahre Virenschleudern. Laut Medienberichten seien sie aber nicht die Treiber der Coronapandemie. Stimmt das?
0-9-Jährige sind wirklich relativ selten positiv – sehr viel seltener als 10-19-Jährige. Kleinere Kinder sind also nicht die grossen Treiber. Wegen des Lockdowns samt Schulschliessung stehen aber zu wenig verlässliche Daten dazu zur Verfügung, was passiert, wenn alle Kinder die üblichen Betreuungseinrichtungen und Schulen besuchen.
Im Moment können ja wieder Daten erhoben werden…
…Und genau diesbezüglich habe ich eine grosse Bitte an die Eltern: Wenn sie dazu beitragen möchten, die Covid-19-Übertragungen in der Kita und an den Schulen besser zu verstehen, sollten sie ihre Kinder bei allfälligen Projekten zu diesem Thema teilnehmen lassen. Hoffentlich stehen bald Speicheltests zur Verfügung, die angenehmer wären als der Nasen-Rachen-Abstrich.
Gesetzt den Fall, es stehe bald ein in der Schweiz zugelassener Sars-Cov2-Impfstoff zur Verfügung. Würden Sie Ihre Söhne impfen lassen?
Ich lasse meine Kinder prinzipiell gegen alles impfen, was im Impfplan empfohlen wird. Als Infektiologin bin ich da in eine Richtung fokussiert. Das wäre bei einem Covid-Impfstoff nicht anders. Ich denke aber, dass die Einführung eines Impfstoffes sequenziell erfolgen wird. Das heisst, es ist undenkbar, dass es auf einen Schlag Milliarden von Impfdosen für alle Menschen rund um den Globus geben wird. Wahrscheinlicher ist daher die Frage, ob ich mich selber impfen lassen würde. Die Antwort ist: Ja, sofort! Denn als Ärztin habe ich ein höheres Risiko, zu erkranken und das Virus auch an meine Familie weiterzugeben.
Empfehlen Sie die Grippeimpfung für Kinder?
Ja, wenn diese gemäss der aktuellen Richtlinie empfohlen ist, auf jeden Fall. Diese Richtlinie stammt aus der Zeit vor der Coronapandemie und sollte jetzt möglichst gut umgesetzt werden. Kleinkinder, die regelmässig Kontakt mit Risikopersonen haben wie Grosseltern, älteren Tagesmamis oder Betreuungspersonen mit Vorerkrankungen, sollten so oder so wie schon unter den alten Richtlinien geimpft werden.
Fast alle von uns halten sich strikt an die Hygieneregeln, samt Mundschutz und Händewaschen. Werden wir als Kollateralnutzen von Covid-19 diesen Winter eine abgeschwächte saisonale Grippe erleben?
Könnte ich das voraussagen, würde mir das BAG viel Geld als Consultant bezahlen! Aber im Ernst: Es kommt darauf an, ob die bestehenden Massnahmen in den nächsten Wochen gelockert oder verschärft werden. In Australiens Wintermonaten Juli und August hat sich gezeigt, dass die saisonale Grippewelle tatsächlich deutlich schwächer ausfiel.
Unter Eltern macht die Warnung die Runde, dass die Maske bei Kindern gesundheitsschädigend sei, weil bei jedem Atemzug zuvor ausgestossene Viren und Bakterien wieder eingeatmet würden. Was halten Sie davon?
Bakterien und Viren, die man ausatmet, hat man bereits im eigenen Körper. Diese können nicht durch Ein- und Ausatmen verstärkt werden. Aber mit der Zeit werden vor allem die FFP2-Masken, die sehr eng anliegen, für die Haut unangenehm.
Und was ist mit dem subjektiv empfundenen Sauerstoffmangel?
Das Maskentragen macht auch uns Erwachsene müde. Auch da kann ich Entwarnung geben: Studien bei schwangerem Gesundheitspersonal, das FFP2-Masken trägt, zeigen, dass die Sauerstoffsättigung keineswegs tiefer liegt als ohne Maske.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt: «Ich bin eigentlich viel mehr ein Bakterienmensch. Viren finde ich furchtbare Erreger!» Können Sie uns Nicht-Medizinerinnen kurz erklären, was Sie damit meinen?
Als Infektiologin gibt es Erreger, die man vorzieht, und andere, die man weniger mag. Ich beschäftige mich lieber mit Bakterien, vor allem mit Antibiotika-Resistenzen, das ist mein Forschungsfeld. Bakterien finde ich deshalb spannender, weil sie mit uns leben. Wir sind also nicht mit Bakterien infiziert oder nicht infiziert. Bakterien, die Infektionen verursachen können, leben bereits in unseren Körpern. Bei Bakterien funktioniert Isolation oder Contact-Tracing nicht – eben, weil man die Erreger ja überall ständig findet. Epidemien und Pandemien sind typischerweise von Viren verursacht. Deshalb sind sie für mich eine besondere Herausforderung.
Sind Kinderärzte und Kinderärztinnen eigentlich anfälliger für Grippe und Erkältung?
Normalerweise haben wir im Arbeitsalltag viel Kontakt mit entsprechenden Erregern. Wir erhalten über die Zeit aber eine gewisse Immunität. Im Moment sind wir wegen der Coronaschutzmassnahmen jedoch etwas weniger betroffen.
Noch ein paar Tipps und Infos für Eltern: Bei welchen Symptomen sollten sie mit ihrem Baby oder Kleinkind eine Kinderärztin aufsuchen?
Sobald es bei Fieber nicht mehr trinken mag, kaum pinkelt und die Eltern trotz fiebersenkender Mittel das Gefühl haben, der Allgemeinzustand des Kindes sei deutlich reduziert, lohnt es sich, rasch mit dem Kinderarzt – zunächst telefonisch – Kontakt aufzunehmen.
Paracetamol, Aspirin, Ibuprofen – wir alle haben stattliche Packungen an fiebersenkenden Arzneimitteln zu Hause. Wie sorglos können wir Kindern diese verabreichen?
Man soll sich an den Beipackzettel halten oder an das, was die Ärztin sagt. Das Fieber sollte erst dann gesenkt werden, wenn das Kind stark eingeschränkt ist.
Wie misst man beim Kind Fieber nun am besten: im Ohr, unter der Zunge, im Po?
Bei Säuglingen rektal, später im Ohr. Das soll altersangepasst gemacht werden. Ältere Kinder wehren sich vermutlich gegen die Messung im Po. Zu Recht – und sie ist auch nicht besser.
Ist das Inhalieren von Wasserdampf bei verhockten Nasennebenhöhlen angesichts Covid-19 noch angebracht?
Coronaviren verbreiten sich ja auch über Aerosole ... Wenn ein Kind gerne inhaliert, spricht nichts dagegen. Die Tröpfcheninfektion geht ja vom Patienten aus und nicht vom Dampfbad. Soweit ich weiss, gibt es aber keine Forschung dazu, vielleicht ändern sich ja auch diesbezüglich die Empfehlungen wieder.
Verraten Sie uns Ihr Lieblingshausmittel: Wie pflegen Sie Ihre eigenen Kinder, wenn sie krank sind?
Ich halte mich an TLC! Das ist das englische Kürzel für «Tender – Loving – Care». Zu Deutsch so ungefähr: liebevolle Zuwendung. Ich gehe dann jeweils nicht arbeiten und versuche, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Wenn sie schlafen wollen, schlafen sie, wenn sie spielen wollen, spielen sie. Wenn sie nichts essen mögen, ist das nicht schlimm. Nur genug trinken müssen sie!
Das Interview erschien zuerst in der November-Ausgabe 2020 von «wir eltern».