Da bleibt auch dem hartgesottnen Wortkünstler die Spucke weg: Autor Simon Chen staunt über die Fabulierkunst seiner Tochter und fragt sich, wann Fantasie zur Lüge wird.
Meine bald sechsjährige Tochter hat die Gabe eines Franz von Assisi. Eines Tages kam sie vom Kindergarten nach Hause und erzählte mit heiligem Ernst und Detailtreue, wie sie mit einer Nuss ein Eichhörnchen auf ihre Hand gelockt hatte, das Tier dort brav Platz nahm und hinterher auf ihrer Schulter herumkletterte. Die anderen Kinder seien um sie herumgesessen und hätten das Schauspiel bestaunt. Die Kleine hat die Geschichte derart glaubhaft erzählt, dass wir uns anderntags tatsächlich bei der Kindergärtnerin erkundigten, ob sie stimme. Sie stimmte natürlich nicht. Ebenso wenig wie die mit dem toten Fuchs, den sie ein paar Tage später mit einem Gspänli aus dem Schnee gegraben haben wollte.
Meine Tochter hat eine, wie man so schön sagt, blühende Fantasie. Sie erzählt auch gern Erlebnisse von anderen nach, macht sie dabei zu ihren eigenen, und um das Urheberrechtsgesetz auszuhebeln, ändert sie den Schluss. Wenn sie solche Begebenheiten schildert, sieht man ihrem Blick förmlich an, wie sie sich das Erlebte bzw. Vorgestellte vor Augen führt. Sie holt sich etwas aus ihrer Wunschwelt, bildet sich ganz fest ein, es tatsächlich erlebt zu haben, und erhebt es dann zur Realität, indem sie es nach aussen behauptet. Das ist Arbeit. Wie wenn man einen schweren Karton vom obersten Regal auf den Boden wuchtet. Von der Idee zum Produkt; jeder Mensch aus der Kreativbranche kann bestätigen, dass das kein Kinderspiel ist! Die kindliche Lust am Fabulieren ist eine schöne Sache, die es zu fördern gilt; was soll ich als Berufsautor anderes sagen. Wenn ich meiner Tochter jeden Abend ein Märchen erzähle, warum soll sie es nicht tun dürfen? Aber wann wird Flunkerei zum Schwindel, wann Fantasie zur Lüge? Dann, wenn ich mein Töchterchen frage, ob die Eichhörnchen-Geschichte wirklich wahr sei und sie sagt ja! Ja. Oder wenn sie einen perfekten Reim nach dem anderen zum Besten gibt («Im Zoo döt hets en Wärter/dä frisst am liebschte Chindergärtner»...) und auf mein erstauntes Nachfragen behauptet, sie hätte sie selbst erfunden? Ja, strenggenommen lügt sie dann. Aber solange sie nicht lügt, um andere ganz bewusst zu täuschen, sich einen Vorteil zu verschaffen, etwas zu verdecken oder gar andere schlecht zu machen, sollten wir das mit der Wahrheit bei Kindern nicht so streng nehmen. Das heisst auch nicht nachfragen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nein, hören wir einfach zu und staunen wir, so wie es Kinder tun. Denn vorgeben, etwas zu können oder etwas erlebt zu haben, ist die beste Voraussetzung, es tatsächlich einmal zu können oder zu erleben. Eine lebhafte Fantasie ist die Grundlage für reelle Entdeckungen und Fertigkeiten. Fabulieren fördert die kindliche Entwicklung: Ich denke mir aus, also werde ich. Woher ich diese Theorie habe? Die hab ich mir gerade ausgedacht ... ungelogen!
Simon Chen
Simon Chen (* 1972) ist Spokenword-Künstler, Kabarettist, Moderator und freier Mitarbeiter von SRF. Er lebt in Zürich und ist Vater von zwei Mädchen. ➺ simonchen.ch
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