Svenja (13) zupft verlegen am ausladenden Rock. Die Kleidung in Schichten ist gewöhnungsbedürftig. Ihr Bruder Noah (11) hingegen würde am liebsten das ganze Jahr über in Bergschuhen und Zipfelmütze zur Schule stapfen. Zu schämen brauchen sich die beiden jedenfalls nicht für ihr nostalgisches Outfit. Denn die andern Kinder lümmeln genauso epochal gewandelt über den Schulhof. Knickerbocker und Wickelgamaschen für die Jungs, Leinenkleid und Schürzen für die Mädchen. Selbst die Schulleiterin schreitet mit hochgeschlossenem Spitzenkleid durch die Gänge – wenigstens ohne Rohrstock.
Wo sind wir hier bloss gelandet? Nicht nur das Schulhaus – ganz Kandersteg steht im Retro-Fieber. Ende Januar taucht das Berner Oberländer Dorf für eine Woche ein in die «Belle Epoque» – jene «Schöne Zeit» um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Europa war kriegsfrei, die Wirtschaft lief rund, in Cafés und Cabarets, Salons und Konzertsälen erblühte Kunst und Kultur. Die Menschen schauten optimistisch in die Zukunft.
Enzianschnaps
Während Svenja und Noah Pausenmilch wie die Bauernkinder vor 100 Jahren schlürfen und über Kreidetafeln kratzen, surrt bei Mutter Gaby Rieder zu Hause die Nähmaschine. In der niedrigen Bauernstube herrscht Hochbetrieb. Das Jahr über stöberte die gelernte Damenschneiderin im Internet nach alten Schnittmustern, kreierte Kostüme aus Chiffon, Samt und Seide. Jetzt türmen sich auf dem Holztisch die Bestellungen, denn fast jeder im Dorf will sich in zeitgemässe Kleidung werfen. Wer auf dem grossväterlichen Dachboden oder auf Ebay nicht fündig wird, gibt Robe, Frack und Spit- zenhäubchen in Auftrag. Oder besucht gleich selber einen Nähkurs bei Gaby. Letztes Jahr, sagt sie, waren endlich auch Männer dabei. Vorab ihr eigener. Die Backen von Serge Rieder erröten noch etwas kräftiger, als Gaby ihn für die selbst genähten Knickerbocker lobt: «Perfekt hast du diese geschneidert!»
Vater Serge, mit Chutteli und Filzhut, freut sich darauf, Touristen aus dem Unterland die Heimat zu zeigen. Schliesslich lebten schon seine Urgrosseltern in Kandersteg, der Urgrossvater starb beim Lötschbergbau vor 100 Jahren. Zwischendurch zückt Serge den Flachmann und schlägt in gedehntem Chanderstägertütsch das Duzis vor. «Hie simer unkompliziert!» Der selbst gebrannte Schnaps aus gelbem Enzian schmeckt bitter und rinnt heiss wie Lava den Hals runter.
Idee von den Osterinseln
Wer durchs Dorf flaniert, wähnt sich im Film – dank Kostümverleih zumindest nicht im falschen. Ob im Rüschenkleid und in Schnürstiefeln oder mit Zylinder und Knaufstock – die Zeitgewandelten nicken einander zu oder halten mitten auf der Strasse einen Schwatz. Auf den Pferdekutschen gleiten die Oberen mit ihren Bälgen vorbei, das Fussvolk stapft in «Halblinigem» durch den Schnee, vorbei an nostalgisch verbrämten Schaufenstern. In der Auslage stehen antike Nähmaschinen mit Tretpedal, Kernseife für 5 Räppli oder Miederware. Und aus den Bäckereien duftet es nach Schlüfchüechli, Schmelbrötli und Kartoffelbrot, gebacken nach uralten Rezepten.
Authentischer könnte die Kulisse nicht sein für eine Zeitreise. «Was wir hier erleben, ist gelebte Geschichte», schwärmt Jerun Vils zwischen Cocktail d’Homard und Filet de Bœuf Wellington im auf Belle Epoque getrimmten Hotel Doldenhorn. Der Geschäftsführer von Kandertal Tourismus geniesst es, dass seine Idee auf derart grosses Echo stösst. Schon bei der Drittauflage pilgerten japanische Kamerateams nach Kandersteg, baten südafrikanische Tageszeitungen um Telefoninterviews und Bildmaterial.
Den Einfall zum touristisch attraktiven Zeitsprung in die Vergangenheit hatte Jerun Vils auf einer Reise mit seinem damals fünfjährigen Sohn, als sie auf einer Osterinsel auf ein rauschendes Fest von Einheimischen mit Schlittenrennen auf grasbewachsenen Abhängen stiessen. Was auf Gras funktioniert, geht erst recht auf Schnee, sagte sich Jerun Vils. Zumal Kandersteg über eine alte Bobbahn verfügte und auf manchem Bauernhof alte Holzschlitten vor sich hin moderten. Die Idee zündete. Ganz ohne Sponsoren und Kommerzwut. Besucher werden weder mit Werbebanden noch mit Labels zugemüllt. Die einzigen Werbeträger sind historiebesessene Touristen und vom Zeitreisefieber gepackte Kandersteger.
Um Herrgottswillen!
Wie etwa Silvia Grossen (66) und ihre Enkelin Josiane (6). Die Oma stolziert als Grande Dame mit Blumenhut und pelzigem Muff dem Natureisfeld entlang, das Mädchen stakst wie ein Aufziehengelchen auf Kufen über die Eisbahn. Direkt aus Paris seien sie hergereist, erzählt die Grossmutter augenzwinkernd. Die über den Schultern baumelnden antiken Eisenbeschläge hat sie auf dem Estrich ausgegraben, Rock und Schultermantel selbst genäht. Silvia Grossen ist angefressene «Belle Epoquelerin». Als sie vor Jahrzehnten als erste Herrencoiffeuse ins Dorf zog, sprachen die einheimischen Frauen nicht mit ihr. Eine, die den Kopf ihrer Männer anfasst? Um Herrgottswillen! Heute ist Silvia Grossen bestens eingebunden ins Dorfleben: «Das Ereignis schweisst zusammen!»