Familie
Habt ihr ein Lieblingskind?
Es ist wunderbar, Brüder oder Schwestern zu haben. Eigentlich. Wenn nicht die Eltern immer den anderen bevorzugen würden.
Habt ihr ein Lieblingskind? Jetzt mal ganz unter uns und ganz ehrlich. Die Frage allein löst schon ein schlechtes Gefühl aus, die Antwort kommt dann meist auch postwendend. Natürlich nicht! Wir lieben unsere Kinder alle gleich! Wir sind schliesslich gute Eltern, wir wissen, dass Bevorzugung Eifersucht und Streitereien auslöst, dass nichts schlimmer ist für Kinder, als dieses nagende Gefühl, das Geschwister bekomme mehr. Mehr Liebe, mehr Aufmerksamkeit, mehr Zeit oder einfach nur ein grösseres Stück Kuchen. Wir waren schliesslich alle selbst mal Kinder. Und wir erinnern uns doch alle nur zu gut, dass die Schwester doch immer das grössere Zimmer hatte, dass der Bruder ständig alles bekam, was er wollte und der Vater sowieso nur Augen für den ewig süssen Nachzügler hatte. Und schon sind wir mittendrin im unmöglichen Versuch aller Eltern zu allen Zeiten, ihre Kinder gleichzubehandeln.
Alle Eltern haben Lieblingskinder
Aber eines gleich vorneweg: Alle seine Kinder gleich zu lieben, ist unmöglich, darin ist sich die Erziehungswissenschaft längst einig. Wir sollten deshalb lieber gleich aufhören, es zu versuchen. Weil wir zu jedem Kind eine andere Bindung haben. Eltern sehen in ihren Kindern unterschiedliche Typen, die ihnen mal näher sind, mal weniger nah: Die schüchterne Mutter erkennt sich selbst in der zurückhaltenden Tochter wieder, die draufgängerische Ältere ist ihr vom Wesen her fremder. Das ist menschlich und unvermeidbar. Lieblingskinder seien in der Regel die, die den Erwartungen von Mama oder Papa am meisten entsprechen.
Autsch! Das klingt arg dissonant im nach Gerechtigkeit eifernden Mutterherz. Aber wer ertappt sich nicht dabei, die besonders kreative Tochter vielleicht etwas zu sehr zu loben, weil man selbst ein kreativer Geist ist – oder zumindest gerne gewesen wäre? Und was ist mit all den fussballverrückten Vätern, die sich kaum mehr einkriegen, wenn der talentierte Sohn auf dem Platz kickt? Schwierig, da als nicht so sportliches, anderes Kind, die gleiche Aufmerksamkeit zu kriegen. Übrigens sind Väter in Sachen Lieblingskinder besonders gut. Lauter einer Studie der University of California in Davis haben 65 Prozent der Mütter und 70 Prozent der Väter ein Lieblingskind. Und wenn wir gerade bei den Vätern sind: Die gleiche Studie beobachtete 2005, dass das Lieblingskind der Väter meistens die jüngste Tochter ist. Mütter bevorzugen hingegen vielfach den ältesten Sohn. Warum? Diese Antwort bleibt die Studie schuldig. Dass Lieblingskinder oft dem anderen Geschlecht entspringen, kann man aber im eigenen Bekanntenkreis nur zu oft bestätigt sehen.
Eine US-Studie hat 2017 zudem wissenschaftlich belegt, was alle älteren Geschwister zu allen Zeiten schon gefühlt haben; dass die jüngeren Geschwister oft ganz grundsätzlich einen Sonderstatus und eine engere Bindung an die Eltern haben. Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm. Denn die gleiche US-Studie hat in ihren Befragungen auch ans Licht gebracht, dass vor allem jüngere Geschwister, wenn sie sich von ihren Eltern benachteiligt fühlen, stark leiden. Denn die Jüngsten in der Geschwisterfolge würden sich intensiver mit ihrer Rolle im Geschwistergefüge befassen und sich stärker vergleichen. Ältere Geschwister profitieren dagegen von einer Position als Lieblingskind deutlich weniger, leiden aber auch nicht so sehr, wenn sie weniger Zuneigung erhalten. Erstgeborene leiden sowieso eher selten an Minderwertigkeitskomplexen – aber das ist wieder eine andere Geschichte und Studie.
Und schon sind wir mitten in einem noch jungen Bereich der Entwicklungspsychologie gelandet: Favoritism, wie die Forschung über Lieblingskinder im Englischen heisst. Und sie hat leider nicht sehr viel Erfreuliches zutage befördert: Denn Favoritism kann tatsächlich, wenn er auf Dauer und ohne Rücksicht auf Verluste ausgelebt wird, schweren seelischen Schaden anrichten. Zurückgesetzte Kinder entwickeln öfter Ängste oder Depressionen, sind weniger selbstbewusst. Und die Kinder, die bevorzugt werden, denen geht es nicht unbedingt besser, sie können später Mühe haben, sich einzugliedern, sich durchzusetzen und können mit Zurückweisungen schlechter umgehen. Und, ach ja, falls noch nicht bekannt: Ungleichbehandlung unter Geschwistern ist der häufigste Grund für Streit und Rivalitäten, die weit über die Kinderjahre hinaus anhalten.
Und jetzt? Was tun?
Ok, wir habens verstanden, sind aber schwer verwirrt. Kinder völlig gleichzubehandeln und zu lieben, ist unmöglich. Sie aber nicht gleich zu lieben, kann sie möglicherweise schwer belasten und macht das Familienleben zur Dauerkampfzone. Ja, Himmel, was soll man denn tun?
Erster Schritt in Richtung Besserung: Sich des Problems bewusst werden – was mit dem Lesen dieses Artikels ja schon mal geschehen sein dürfte. Wenn man sich schnell aufregt oder man schnell starke Sympathien oder Beschützerinstinkte bei einem bestimmten Kind hat, kann das ein Zeichen sein. Dann sollte man sich hinterfragen. Was auch hilft, sich zu fragen: Reagiere ich auf mein Kind auf eine bestimmte (positive oder negative) Weise, weil es mich an einen anderen Verwandten, beispielsweise die eigene Schwester, erinnert? Auch das Gespräch mit dem Partner oder der Partnerin hilft und ist oft erhellend. Vielleicht kann er oder sie kompensieren, vielleicht sieht er oder sie die Ungleichbehandlung aus ganz anderen Blickwinkeln.
Grundsätzlich müssen sich Eltern nicht schämen, ein Kind (meist für eine gewisse Zeit) besonders ins Herz geschlossen zu haben. Die Kinder sollten nur möglichst wenig davon mitbekommen. Das Problem dabei: Kinder haben unglaublich feine Antennen, wenn es um Ungerechtigkeiten geht. Und so wird man vor dem Einschlafen schon mal ziemlich direkt gefragt: «Hast du Beni lieber als mich?», oder die Variante: «Wieso verbringst du so viel Zeit mit Mira?»
Anstatt sofort lautstark zu verfechten, dass man alle Kinder gleich fest lieben würde, besser nachfragen, woher dieses Gefühl beim Kind kommt. Was man als Mama oder Papa anders machen könnte. Und unbedingt erklären, woher die gerade etwas engere Bindung zum Geschwister kommt. Zum Beispiel: «Dein Bruder braucht gerade sehr viel Zuwendung von mir, das hast du richtig beobachtet. Und ich bin sehr dankbar, dass du schon so viel alleine schaffst. Aber auf dich passe ich auch auf.» Dem Kind zeigen: «Du bist genauso wertvoll für mich, auch wenn ich anders mit dir umgehe.»
Manche Kinder brauchen mehr
Remo Largo, die 2020 verstorbene Schweizer Koryphäe der Entwicklungspsychologie, hat einst zu Geschwisterrivalität geschrieben: «Alle Kinder gleichzubehandeln, wäre ungerecht, weil jedes Kind ein einmaliges Wesen ist.» Die meisten Eltern würden intuitiv versuchen, den individuellen Bedürfnissen ihrer Kinder zu entsprechen. Puuh, etwas Entwarnung also vom Altmeister. Wir machen das zwar nicht immer gerecht, aber schon gut. «Manche Kinder blühen mit mehr Aufmerksamkeit regelrecht auf, die sollen dann ab und zu auch ein wenig mehr bekommen.»
Im Elternalltag bedeutet dies dann zum Beispiel, dass man dem Draufgänger viel mehr verbieten muss, als einem vorsichtigen Kind. Eine Tochter hebt ihre Süssigkeiten wochenlang auf, die andere verschlingt alles sogleich und muss eher gebremst werden. Geschwister sind so verschieden, dass Eltern unterschiedlich mit ihnen umgehen müssen. Aber man müsse erklären und hervorheben, was jedes Kind besonders macht. «Diese Unterschiedlichkeit wollen Kinder erkennen, so erfahren sie auch, wer sie selbst sind. Und ihnen muss immer deutlich vermittelt werden, dass sie ihren Platz in der Familie haben», schreibt Remo Largo. Er warnt aber davor, Zuwendung zum Beispiel von Schulnoten oder Liebsein abhängig zu machen.
Das klingt machbar. Wir wissen als Eltern, dass wir nicht immer ganz gerecht sind, aber wir wissen auch, dass das oft gute Gründe hat. Ein Kind ist bedürftiger, ein anderes krank. Eines befindet sich gerade in der Pubertät und ist vorübergehend nicht ansprechbar. Phasen-Liebe könnte man das auch nennen. Und wie so vieles beim Grosswerden der Kinder, wechselt es ständig, geht vorbei, bevor wir es wirklich begriffen haben. Aber die Liebe zu unseren Kindern, die ist immer da.
Katja Fischer De Santi war von Mai 2022 bis Oktober 2024 Chefredaktorin von «wir eltern». Zuvor war sie 15 Jahre lang als Gesellschaftsjournalistin bei verschiedenen Tageszeitungen in leitenden Funktionen tätig. Katja lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Buben am Bodensee, weil dort die Gedanken so weit schweifen können.