Auszeiten
Raum für mich allein
Evelyne Mathis ist gelernte Landwirtin und betreibt mit ihrem Mann Blumenfelder in Basel. Als sie Mutter wurde, merkte sie erst, wie stark die bäuerlichen Gedankenkonstrukte aus ihrer Kindheit in ihr verankert sind.
Wenn sich Nachwuchs ankündigt, dann sind es in aller Regel die Frauen, die ihre Räume, ihre Zeit und ihre Autonomie abgeben. Zuallererst den in sich drin, wenn sich der weibliche Körper über Monate hinweg verändert, ausdehnt. Das Kind braucht Platz. Ist es auf der Welt erst recht. Das Büro wird zum Kinderzimmer umfunktioniert, das eigene Bett zur Babyzone, die stillende Brust muss immer verfügbar sein, eigene Bedürfnisse, eigene Räume lösen sich auf. Während Väter ihre Räume oftmals gut verteidigen, realisieren viele Mütter oft erst Jahre nach der Geburt, dass da gar kein Platz mehr ist für sie selbst, räumlich und psychisch, dass sie sich aufgelöst haben in den Bedürfnissen der anderen. Sich gar nicht mehr erlauben, Platz und Zeit zu beanspruchen.
«Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein», lautet die kürzeste Zusammenfassung des Essay «A Room of One’s Own». Damit hat Virginia Woolf vor fast hundert Jahren einen Klassiker der Frauenbewegung geschrieben, der auch heute kaum aktueller sein könnte. Wir haben vier Frauen und Mütter besucht, die sich diese Räume zurückerobert haben. Jede auf ihre ganz eigene Weise: auf dem Blumenfeld, im Hotelzimmer, in Rollenspielen oder der Fantasie.
Einfach genial
Meine Mutter konnte nie weg, nicht einmal auf eine Wanderung. Dann hätte es für uns vier Kinder ja kein Mittagessen gegeben. Für mich war das normal, dass sie immer zu Hause war und der Mann draussen. Ich dagegen lebe heute total anders. Doch beinahe wäre es nicht dazu gekommen. Während der Ausbildung zur Landwirtin schwor ich mir: Nie, nie heirate ich einen Bauern. Darum habe ich die Matura gemacht, Physiotherapie studiert und stand eigentlich mitten im Beruf. Doch dann traf ich meinen Traummann. Beim Rheinschwimmen erwähnte er nebenbei, dass er Landwirt sei. Wir hatten die gleichen Interessen, alles stimmte. Und dann das!
Tatsächlich bin ich mit ihm ein Stück weit zurück zu meinen Wurzeln gegangen. Aber da in seiner Familie der elterliche Hof an den Bruder ging, haben wir uns etwas Eigenes gesucht – und die Blumenfelder gefunden. Heute finde ich: Es ist etwas vom Genialsten überhaupt ! Jetzt sind wir Landwirte, die Schnittblumen produzieren. Aber nicht ir → gendwelche, wir haben etwa Kosmeen, die gibt es im Handel gar nicht, weil sie so filigran sind und sich kaum transportieren lassen.
Eigentlich sind die Felder zum Selberschneiden. Doch irgendwann kamen Anfragen für Sträusse, später für Hochzeiten, Beerdigungen. Natürlich versuchte ich, erst einmal alles mit dem Baby auf dem Rücken hinzukriegen. Mein Mann sagte sofort: Wir sind gleichwertig. Meine Arbeit, genauso wie deine. Ich musste es mir selbst erlauben, einen eigenen Raum für das Blumenbinden zu beanspruchen. Ein paar Stunden ohne Kind zu sein. Anschliessend habe ich mich für das Hüten bedankt. Er meinte: Ich bin nicht am Hüten, das sind auch meine Kinder.
Ich streife durch die Felder und Wiesen
Mittlerweile haben wir uns aufgeteilt, jeder hat seine Arbeitstage. Seit beide Kinder etwas grösser sind, fallen auch die Pausen fürs Stillen weg. Ich habe wirklich den ganzen Tag für mich und die Blumen. Vielleicht ist so ein Modell im Allgemeinen normal, in der Landwirtschaft ganz und gar nicht. Es ist selten, dass der Bauer einmal für die Familie kocht. Dabei tut es doch auch gut. Und wenn die Frau zufriedener ist, dann geht es doch auch dem ganzen System gut.
Mein Mann geht manchmal zum Sport abends und schlug deshalb vor: Mach doch du auch einen freien Abend für dich. Fahr in die Stadt, triff Leute, amüsiere dich. Ich wollte nicht unter Leute, ich bin zurück aufs Blumenfeld gefahren. Es gibt in der Nähe auch einen alten Eselstall, den wir umgebaut haben. Da kann man kochen, wenn wir auf dem Feld sind, das Büro machen. Und da draussen gibt es einen Weiher, eine riesige Trauerweide, alles ist verwachsen. Unter einem gespannten Segel mache ich auf zwei Tischen die Gestecke. Wenn ich aber freihabe, dann streife ich einfach durch die Felder, da kann ich mich stundenlang vergessen. Der Blick ist ein anderer. Ich bin zu Gast bei den Blumen, den Vögeln, Bienen, Käfern und all dem Leben, das sich tummelt. Dann bin ich fast etwas stolz, denn die Blumen bedeuten nicht nur eine Existenz für uns, sondern für so viele mehr. Und das mitten in der Stadt Basel.
Im Winter schläft das Feld, die Saison endet mit dem ersten Frost. Dann kommt alles zur Ruhe, im Sommer sind wir fast nie daheim. So bleibt dann Zeit, um alles zu ordnen. Aber auch, mit den Kindern Dinge zu unternehmen, in den Zoo zu gehen. Am Anfang war ich etwas traurig im Herbst, aber jetzt weiss ich: Die Pause gehört auch dazu. Wir zehren von all den Farben. Und irgendwann blüht im Frühling wieder die erste Anemone.