Pünktlichkeit vorleben, warten bis die Ampel auf Grün springt – kein Problem. Doch wie bringt Papa der Tochter Ehrlichkeit bei, wenn er als Jugendlicher selbst geklaut hat?
Vroni erzählte bei einem Nachtessen, ihre Tochter Lisa sei vor einem Jahr beim Klauen erwischt worden. Um den Tisch sassen lauter Eltern von Teenagern. «Die Polizei hat mich angerufen», sagte sie. «Ich war ziemlich sauer.» «Die Polizei?», fragte jemand erstaunt, «was hat Lisa denn geklaut?» «Ein T-Shirt für zwanzig Franken.» Habe ich mit meiner Tochter schon übers Klauen geredet?, fragte ich mich. Was würde ich ihr sagen? Dass die Welt schnell aus den Fugen gerät, wenn man einander nicht vertrauen kann? Dass sich Klauen nur im grossen Stil lohnt, so wie es die Banker vorgemacht haben? «Lisa kassierte einen Verweis im Strafregister», sagte Vroni. Meine Klauphase war wie ein Zwang über mich gekommen, als ich zwanzig war. Eine Zeit lang hatten wir uns auf Fleisch spezialisiert. Entrecôte, Kalbsbraten, Filet. Wir liessen uns die Stücke zurechtschneiden und steckten die Ware unters Hemd. Festwochen in der WG. «Die 150 Franken Busse musste sie selber bezahlen», hörte ich Vroni sagen. Vronis Tochter ist ein vernünftiges 16-jähriges Mädchen, eine brilliante Schülerin, engagiert im Sport. Ihre Eltern sind in Ordnung, unkomplizierte Leute. Man könnte fast neidisch werden. Und diese Leute erhalten einen Anruf: «Sie können Ihre Tochter auf der Wache abholen.» Damals gab es Ladendetektive, aber noch wenig Überwachungskameras. Wenn man aufflog, zahlte man eine Busse – aber man flog nicht auf, irgendwann liess man das Klauen einfach sein. Ausser man war Profi. Die gab es auch. Man konnte bei ihnen Zigaretten bestellen, eine Stange zum halben Preis. «Lisa hatte ein Freibillett für ein Openairkonzert, das musste sie verschenken», sagte Vroni. «Kein Openair für Ladendiebe.» «Ziemlich hart», sagte ich. «Hast Du nie geklaut?»
«Klar habe ich geklaut»; sagte Vroni. «Ich hab mal vier Tops übereinander angezogen und bin aus dem Laden gelaufen, das war mein Meisterstück.» «Hast Du Lisa davon erzählt?» «Sicher», sagte Vroni. «Lisa weiss auch, dass ich ab und zu mal kiffe.» Aha, dachte ich, jetzt fängt es an, weh zu tun. Die Jahre der Unschuld sind vorbei. Es ist einigermassen einfach, Vorbild zu sein, solange die Kinder klein sind. Geh’ nie bei Rot über die Strasse, selbst bei Gelb nicht – anfänglich musste ich mich zusammenreissen, aber heute stehe ich vor der Ampel wie ein Idiot, bis sie grün wird. Ich habe auch gelernt, pünktlich, zu sein, ich weiss, wie man Feuer macht im Wald, wie man Drachen fliegen lässt, ich habe mir eine Fischerrute angeschafft, einen Werkzeugkasten, eine Bohrmaschine. Weil ich Vorbild sein will. Weil ich dachte, Väter besitzen Fischerruten und Bohrmaschinen. Ich müsste mal darüber reden, dass ich geklaut habe, gekifft, Pillen geschmissen, Frauen betrogen; die wilden Jahre. Oder hat der Trend nicht schon längst gekehrt? Bin ich nicht längst schon out mit meinen Geschichten? Unsäglich veraltet? Heute müsste ich mir eingestehen, dass ich nicht nur ein schlechtes Vorbild bin – ich bin längst vorbei. Fragt sich, was schlimmer ist.
Miklós Gimes
Miklós Gimes ist redaktioneller Mitarbeiter beim Magazin und schreibt die wöchentlichen «Stadtgeschichten» beim «Tages-Anzeiger».
Für diesen Inhalt benötigst Du ein «wir eltern» Login. Es ist kostenlos und du wirst so Teil unserer Community und kannst künftig von vielen weitern Funktionen und Inhalten profitieren.