Zähne
Braucht wirklich jedes zweite Kind eine Zahnspange?
Von Till Hein
Jedes zweite Kind hat mittlerweile eine Zahnspange. Ist das wirklich nötig? Und wann sollte man dringend den Zahnarzt wechseln?
Wer als Schulkind in den 1980erJahren eine Zahnspange trug, war zwar vielleicht nicht stolz darauf – aber etwas Besonderes. Heute dagegen wird bei jedem zweiten Kind das Gebiss reguliert, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik belegen. Aber wachsen Kinderzähne tatsächlich so viel schräger als früher?
Die Kieferorthopädin Agnes Karadi von der Praxis Zahnmedizin Zürich Nord lächelt: «Insbesondere in den letzten 25 Jahren haben Zahnfehlstellungen immer grössere Aufmerksamkeit bekommen», sagt sie. Die Möglichkeiten zur Korrektur seien vielfältiger und besser geworden – und damit sei auch der gesellschaftliche Druck gestiegen, ein ebenmässiges Gebiss zu haben. Den Eltern heute sei es wichtig, dass ihre Kinder nicht nur gesunde, sondern auch schöne Zähne haben.
Eingriffe erst am bleibenden Gebiss
Aber brauchen Zweitklässler wirklich schon Zahnspangen? Und wo liegen die Gefahren, wenn man nicht behandelt?
Manche Kieferorthopäd:innen plädieren dafür, schon bei den Milchzähnen einzugreifen. So lasse sich Platzmangel im Kiefer früh beheben und das Risiko reduzieren, dass später bleibende Zähne gezogen werden müssen. Andere Experten raten dagegen zum Abwarten, bis alle bleibenden Zähne da sind. Schon weil diese in Einzelfällen doch so wachsen, dass sie keiner Korrektur bedürfen – obwohl die Stellung der Milchzähne anderes erwarten liess. Befürworter eines frühen Eingreifens argumentieren: Oft reiche bei Milchzähnen eine günstige herausnehmbare Spange, und bei den bleibenden Zähnen sei dann keine Korrektur mehr nötig.
Agnes Karadi ist da zurückhaltender: Erst bei Patienten im Alter von acht bis zwölf Jahren, die sowohl Milchzähne als auch bleibende Zähne im Mund haben, greift sie in manchen Fällen ein. «Sogenannte Kreuzbisse, bei denen die Zähne des Ober- und Unterkiefers seitlich aneinander vorbei beissen, müssen zum Beispiel frühzeitig behandelt werden», sagt sie. Und auch wenn der Kiefer eines Kindes sehr schmal ist, sei es manchmal sinnvoll, bereits früh mit einer Spange mehr Platz zu schaffen. «Die meisten anderen Zahn- und Kieferfehlstellungen werden bei uns in der Praxis erst am bleibenden Gebiss, etwa ab dem zehnten Lebensjahr, korrigiert», so Karadi.
Hilfreiche Nachtspange
Die Gründe für Zahnfehlstellungen sind vielfältig: Neben genetischen Faktoren hat insbesondere das Daumenlutschen im Kleinkindalter häufig einen ungünstigen Einfluss. Über die Jahre wirkt der Daumen oder auch ein Nuggi wie ein Stemmeisen, das die Zähne nach vorne drückt. Kinder sollten daher spätestens ab dem dritten Geburtstag keinen Nuggi mehr nutzen, sagen Fachleute.
Schon weil kieferorthopädische Behandlungen viele Jahre lang dauern können, sollte man sich zuvor ausführlich von einem Fachzahnarzt oder einer Fachzahnärztin beraten lassen. Bei einem leichten Überbiss («Hasenzähnen») etwa lassen sich mit einem einfachen, herausnehmbaren Modell, oft als «Nachtspange» bezeichnet, gute Resultate erzielen. Um einzelne Zähne, die sehr schräg oder verdreht wachsen, perfekt einzustellen, eignen sich dagegen fest montierte Spangen besser. Das Design von Zahnspangen ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden. Besonders für Kinder und Jugendliche gibt es inzwischen Ausführungen mit Verzierungen wie Meerjungfrauen, Superhelden oder dem Logo von Fussballclubs. Das erhöht oft die Motivation, die Spange regelmässig zu tragen.
Besonders in den ersten Tagen berichten die Kinder häufig von Druck und in manchen Fällen von Schmerzen. Innerhalb weniger Wochen gewöhnen sich die meisten aber gut an ihre Spange.
Achtung, Versicherung!
Zahnspangen gehören nicht zu den Basisleistungen der Krankenkassen. Entsprechende Zusatzversicherungen sollte man daher am besten schon kurz nach der Geburt eines Kindes abschliessen, raten Fachleute. Haben Kinder nämlich bereits eine Diagnose über schief stehende Zähne, werden die Beiträge unangenehm hoch. IV und Sozialamt zahlen nur in besonders schweren Fällen, bei denen ein sogenanntes Geburtsgebrechen vorliegt: eine Gaumenspalte etwa oder eine deutliche Über- oder Unterzahl von Zähnen.
Die Digitalisierung habe in den letzten Jahren für kieferorthopädische Behandlungen viele neue Möglichkeiten mit sich gebracht, sagt die Kieferorthopädin Agnes Karadi aus Zürich. Früher fand die Planung einer Zahnspange meist am Gipsmodell statt. Heute gibt es dafür in vielen Praxen digitale Alternativen. Sogenannte Intraoral-Scanner etwa erstellen ein virtuelles Modell von Zähnen und Kiefern, an dem sich verschiedene Behandlungsszenarien durchspielen lassen. Dadurch können sich die Patient:innen ein genaues Bild der möglichen Therapieverfahren und der zu erwartenden Ergebnisse machen.
Wenig erfreulich sind die hohen Kosten von bis zu 16 000 Franken für Gebissregulierungen. In dieser Summe sind neben der Herstellung der Spange selbst auch Diagnostik, Labor- und Materialkosten, das Einsetzen der Spange sowie regelmässige Kontrollen und Anpassungen enthalten.
Fühle man sich unsicher, ob eine Behandlung nötig sei, empfiehlt sie, eine Zweitmeinung einzuholen. Manchmal kommen Fachleute wie sie im Gespräch mit Patient:innen oder deren Eltern nämlich auch zum Schluss, dass nichts korrigiert werden müsse. Denn zwar schwebt mehr und mehr Menschen ein «perfektes Lächeln» vor. Aber auch ein nicht ganz ebenmässiges Gebiss mit Charakter kann grossen Charme haben. Die berühmte Popsängerin Madonna zum Beispiel hat eine Zahnlücke. Aber die war halt auch zu einer Zeit Kind, als noch nicht jedem zweiten eine Bild: Getty Images Spange verpasst wurde.