Rape Culture
«Sexismus ist kein Spass»
Von Caren Battaglia
Der Rock zu kurz, die Bluse zu aufreizend? Oft wird Frauen unterstellt, sie hätten sexuelle Übergriffe provoziert. «Klarer Fall von Täter-Opfer-Umkehr», sagt Agota Lavoyer. Ein Gespräch über «Rape Culture».
Frau Lavoyer, Ihr neues Buch heisst «Jede Frau». Weil – so schreiben Sie – jede Frau schon in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erlebt hat. Ich höre da schon das Protestgeheul, das sei übertrieben.
Ich wünschte mir, es wäre übertrieben, ist es aber nicht. Nicht jede Frau ist Opfer einer Vergewaltigung geworden. Aber von sexualisierter Gewalt mit Sicherheit. Erfahrung mit Belästigungen, Anzüglichkeiten und Übergriffen hat jede. Wirklich jede. Dass es nur bestimmte Frauen träfe, ist ein Mythos.
Welche Mythen über sexualisierte Gewalt geistern zudem in den Köpfen herum?
Es gibt zahllose falsche Bilder. Zum Beispiel dieses: Eine Vergewaltigung sei stets mit brutaler Gewalt verbunden und die Täter seien Fremde oder Psychopathen, die bei Nacht aus einem Busch sprängen. Die Realität sieht so aus: In den weitaus meisten Fällen ist der Täter mit dem Opfer bekannt. Ein Freund, der Partner… Und ein weiterer schlimmer Mythos: Die Frau trage eine Mitschuld. Sie habe sich nicht richtig verhalten, einen zu kurzen Rock angehabt, sich nicht genügend gewehrt, Alkohol getrunken. Sie hätte nicht an diesem Ort sein dürfen oder früher Anzeige erstatten sollen. Dieses entsetzliche «Victim Blaming» steckt sogar in den Köpfen der Frauen selbst. Mitunter werden auch deshalb viele Vergewaltigungen nicht angezeigt, weil die betroffenen Frauen – völlig zu Unrecht! – denken, sie hätten etwas falsch gemacht und sich deshalb schämen.
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich besonders mit einem Begriff: «Rape Culture». Was hat man sich darunter vorzustellen?
Puh. Um das darzustellen, habe ich ein ganzes Buch gebraucht. Aber ich versuche, es knapp zu machen: eine Kultur, die uns umgibt, prägt und den Boden bereitet für sexualisierte Gewalt. Wir leben in einer Kultur, in der die Übergriffe von Männern bagatellisiert und in der sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Nach wie vor wird Sexistisches gerne als Spass eingeordnet–Stichwort «Boys will be Boys»– und Frauen, die sich darüber beschweren, bekommen den Stempel «hysterisch» oder überempfindlich aufgedrückt. Hinzu kommt eine häufige Straffreiheit von Tätern und die Stigmatisierung von Opfern. Diese «Rape Culture» fusst auf Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Zudem ist es noch immer so, dass männlich Konnotiertes hoch und weiblich Konnotiertes geringer bewertet wird. Nehmen Sie: Literatur/Frauen-Literatur, Fussball/Frauen-Fussball. Kurz, das Männliche ist die Norm und das Weibliche, das schlechtere «andere». Schliesslich lehrt uns die «Rape Culture», dass Mädchen und Frauen dafür zuständig sind, sich vor sexualisierter Gewalt zu schützen: keine «sexy» Kleidung, Selbstverteidigungskurse, Telefon stets griffbereit haben. All das. Das ist vollkommen falsch.
Also wenn ich als Mutter meiner Tochter rate, vielleicht nicht allzu leicht geschürzt in den Ausgang zu gehen, ist das verkehrt?
Ja. Erstens, weil Mütter ihre eigenen Ängste nicht auf Töchter übertragen sollten und zweitens das Mädchen damit lernt: Es ist meine Verantwortung, dass ich nicht belästigt oder bedrängt werde. Und wenn doch, habe ich etwas falsch gemacht. Nein, hat sie nicht. Ein Mädchen kann, genauso wie ein Junge, anziehen, was es will und hingehen, wohin es will. Als Mutter wäre es besser, zu vermitteln: «Du kannst jederzeit mit mir über alles reden, und mich immer, wenn dir im Ausgang unwohl ist, anrufen. Wenn du sexualisierte Gewalt erfährst, bist nie du schuld. Schuld hat immer der Täter.» So lange wir bei den Mädchen ansetzen, läuft es falsch. Das leistet der Täter-Opfer-Umkehr Vorschub.
Also zu den Jungs und Männern: Was muss da geschehen?
Wir müssen von den Männern erwarten, dass sie Verantwortung für das Problem übernehmen. Erwarten, dass sie sich informieren. Unseren Buben vermitteln, was sexistisch und frauenfeindlich und somit Unrecht ist. Sie ermuntern, auch als weiblich konnotierte Seiten von sich zu zeigen, sie dafür sensibilisieren, was an den traditionellen Männlichkeitsvorstellungen problematisch ist. Sie bestärken, wenn sie sich entgegen Geschlechtsrollenstereotypen verhalten, etwa für weibliche Stars und Vorbilder schwärmen.
Und was wären die «Hausaufgaben» für Väter?
(lacht) Mein Buch zu lesen. Aber im Ernst: Natürlich gibt es auch andere grossartige Informationsquellen zu dem Thema. Wenn Väter sich mit der Thematik beschäftigen, tragen sie viel dazu bei, dass Stereotypen nicht auf ewig reproduziert werden. Sie sollten ihren Kindern erklären, weshalb Mädchen hinterher zu pfeifen kein Kompliment, sondern eine Belästigung ist. Und es wäre schön, wenn sie Zivilcourage zeigten. Denn noch immer ist es eine Tatsache, dass Männer anderen Männern eher zuhören als Frauen. Wenn Männer also anderen Männern sagten «der Witz war nicht witzig, sondern sexistisch» und sich an die Seite der Frauen stellten: Die Welt wäre eine andere.
Auf dieser Welt scheinen wir aber gerade einen Backlash zu erleben: Trump wird vielleicht wieder Präsident, «Tradwives» haben auf Instagram und Youtube Millionen von Followern ...
...dazu der allgemeine Rechtsruck, die Maskulinisten, Pickup-Artists und Flirtcoaches. Ja, es ist schlimm. Manchmal versuche ich, es nicht allzu schwarzzusehen. In den positiven Momenten hoffe ich: Das ist jetzt wirklich das allerletzte Aufbäumen des Patriarchats.
Agota Lavoyer, geb. 1981, ist Sozialarbeiterin, Opferberaterin, Expertin auf dem Gebiet sexualisierter Gewalt, Mutter und Autorin.
Ihr neues Buch: A.Lavoyer: «Jede Frau,» Yes Publishing, Fr.35.–.