Interview
Sprecht ihr schon Resilienisch?
Von Diana Hagmann-Bula
Nora Völker Munro hat eine Sprache erfunden: Resilienisch. Diese soll Kinder und Familien stark machen. Warum man dafür ganz viele Fragen stellen muss, haben wir sie gefragt.
Wann haben Sie zu letzt Resilienisch gesprochen?
Nora Völker Munro: Gestern. Meine Tochter braucht bei den Hausaufgaben ziemlich viel Unterstützung. Letzte Woche war ich beruflich oft unterwegs. Oma hat sie etwas begleitet, meine Tochter hat aber sehr viel selber geschafft. Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr die Tage «zurückgespult» und beschrieben, was gut gelaufen ist. Auch, dass meine Tochter ihre Hausaufgaben selbstständig erledigt hat. Stärkung passiert nicht nur in schlechten Momenten, sondern gerade auch, wenn etwas gut gelungen ist.
Resilienisch - eine Sprache, die zwar nicht im Ausland weiterhilft, dafür zu Hause?
Ja, sehr. Es ist eine Sprache, die Beziehungen stärkt. Ich habe mich zu Beginn auf die ElternKind-Beziehung konzentriert und dann gemerkt, dass Resilienisch allen Beziehungen guttut. Der Partnerschaft, im Job, in der Schule.
Wie hilft eine starke Beziehung im Leben?
Die Forschung zeigt, dass eine starke Beziehung der Grundstein für Resilienz ist. Eine der ersten Resilienzstudien, die Kauai-Studie von Emmi Werner, hat sich schon in den 50er-Jahren damit beschäftigt. Wie entwickeln sich Kinder, die unter Risikobedingungen aufwachsen? In Familien mit Armut, Suchtproblemen oder anderen Schwierigkeiten? Es zeigte sich, dass Kinder, die eine verlässliche, stärkende Bezugsperson haben, trotzdem ein erfolgreiches Leben führen können.
Wie funktioniert Resilienisch sonst so?
Es gibt drei Fälle im Resilienischen. Sie haben mit der Gehirnampel zu tun. Wenn alles gut läuft im Familienalltag, dann ist die Situation grün. In gelben Situationen sind Emotionen mit im Spiel. Bei Rot herrscht Alarmzustand Wenn die Ampel auf Gelb schaltet, ist es wichtig, die Gefühle zu benennen. Das hilft, eine Verbindung zum Kind herzustellen. Es fühlt sich verstanden. Wir unterstützen das Kind damit dabei, seine Emotionen zu regulieren und irgendwann selbst eine Sprache für seine Gefühle zu entwickeln. Die Kinder verhalten sich bei Gelb oft nicht mehr, wie uns lieb ist. Sie nörgeln, sie streiten mit Geschwistern oder uns. Mit Resilienisch schauen wir dahinter und erkennen, was das Kind eigentlich braucht. Bei Rot braucht das Kind ein Gefühl der Sicherheit. Wir begleiten es möglichst gut durch den Alarmzustand.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Nehmen wir an, das Kind weigert sich, die Hausaufgaben zu erledigen. Vielleicht hatte es einen schwierigen Tag in der Schule. Auf der anderen Seite habe auch ich als Elternteil Bedürfnisse, Verantwortung und Werte. Deshalb leuchten schnell beide Gehirnampeln. Wie kann ich nun sowohl das Kind als auch mich im Blick haben? Ich könnte zum Beispiel sagen: «Du würdest gerade viel lieber spielen. Ich habe nur bis 17.30 Uhr Zeit. Wie können wir den Nachmittag am besten gestalten?» Oder wenn es keinen Zeitpuffer mehr gibt: «Jetzt ist Zeit für die Hausaufgaben. Wir haben beide überhaupt keine Lust. Wie können wir es trotzdem möglichst gut hinbekommen?»
Lasst uns...
• unseren Fokus immer wieder auf das richten, was gut läuft.
• unsere Kinder fragen: Wie hast du das geschafft?
• hinter das Verhalten schauen und benennen, was das Kind gerade braucht oder bräuchte.
• unseren Kindern zeigen, wer wir sind und was auch wir brauchen: Was ist mir wichtig? Was brauche oder bräuchte ich jetzt?
• unsere Kinder in schwierigen Momenten immer wieder in die Lösungssuche mit einbeziehen: Was könnten wir jetzt tun?
• nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen – es kommt auf unsere innere Haltung an.
• Kindern auf Augenhöhe begegnen und gleichzeitig Verantwortung für die Beziehung, die Bedürfnisse und die grossen Fragen im Leben übernehmen.
• schwierige Momente im Familienalltag als Wachstumschance sehen: Was kann das Kind in dieser Situation lernen? Was ist meine Lernaufgabe?
• Verantwortung für unsere eigenen Gefühle übernehmen.
• den wohlwollenden Blick auch auf uns selbst richten – es muss und kann nicht immer gut laufen. Aber erfahrungsgemäss gilt: Die nächste Übungsmöglichkeit kommt ganz bestimmt.
Sie bleiben beharrlich?
Ja, bleibe ich und verwende gute resilienische Zauberwörtchen.
Wie lauten die?
«Und gleichzeitig», ist so eine Wendung. Ich sehe, dass mein Kind lieber spielen würde. Und gleichzeitig ist jetzt die richtige Zeit, um mit den Hausaufgaben zu beginnen, weil ich nur bis 17.30 Uhr Zeit habe. Bei all dem lasse ich Luft. Wenn ich merke, dass ich angespannt werde, verlasse ich den Raum und komme gelassener wieder zurück.
Das wirkt? Auch bei sehr autonomen Kindern?
Ja, dieser Moment für mich in einem anderen Raum gibt dem Kind Gelegenheit zu kooperieren. Druck verursacht oft nur Gegendruck. Viele Kinder können dann gar nicht mehr kooperieren, weil sie so unter Stress geraten.
Was tun Sie, wenn die Gefühlsampel auf Rot schaltet?
In brenzligen Situationen schaltet unser System in den Flucht-, Kampf-, Erstarrungsoder Unterwerfungsmodus. Bei letzterem macht das Kind nur mit, weil wir genug Druck ausgeübt haben. Das sind für Erwachsene die angenehmen Kinder, aber wir müssen uns daran erinnern, dass auch das eine Stressreaktion ist. Kinder, die kämpfen oder flüch - ten, fordern uns mehr heraus. Wichtig bei Rot ist, dass wir jetzt die Sprache des Körpers und des Nervensystems sprechen. Rein verbal kommen wir oft nicht mehr weite. Das geht zum Beispiel über die Atmung. Soll ich den Stress einfach wegatmen?
Das hilft?
Ja, wir müssen dem Körper signalisieren: Wir sind sicher. Die Atmung ist eine effektive Möglichkeit, das zu erreichen. Wie atmen Sie in solchen Momenten? Drei Mal bewusst schnell und dann drei Mal tief und langsam. Das hilft bei mir recht gut. Wissenschaftlich untersucht und erwiesen ist zum Beispiel die 4-7-11-Atmung. Hier zählt man auf vier beim Einatmen, auf sieben beim Ausatmen. Wenn man das in ruhigen Momenten trainiert, übt man elf Minuten lang. Diese Atmung hilft auch bei chronischem Stress, bei Einschlafproblemen und akuten Ängsten. Wenn wir in grünen Situationen üben, können wir in roten Situationen besser darauf zurückgreifen. Was macht Resilienisch noch aus? Neben der Gehirnampel und dem Beschreibenden sind Fragen bedeutend. Resilienische Fragen haben den Hintergrund, Kinder in die Lösung miteinzubeziehen. Wir wollen erreichen, dass sich Kinder bei einem Problem irgendwann selber fragen: Was kann ich jetzt tun?
Und was können sie tun?
Die Kinder lernen mit der Zeit eine produktive Herangehensweise. Das stärkt ihre Resilienz. Bis zu welchem Alter können Kinder selber noch kein Resilienisch sprechen? Viele Erwachsene haben das noch nicht gelernt. Auch wir sprechen oft aneinander vorbei, weil wir nicht merken, was eigentlich los ist. Weil wir zum Beispiel nicht sagen können: «Ich bin total müde und brauche eine Auszeit.» Stattdessen sagen wir: «Kannst du nicht einfach mal helfen?» Der andere fühlt sich dann total kritisiert und schon entsteht ein Konflikt. Reslienisch muss gelernt werden, es kommt nicht von selber.
Man lernt Resilienisch und fällt nie mehr zurück in die alte Erziehungssprache?
Wie leicht es uns fällt, Resilienisch zu sprechen, hängt zum einen von unseren eigenen Kindheitserfahrungen und zum anderen von unseren aktuellen Bedürfnissen ab. Wenn Eltern müde sind, fällt es vielen schwer, resilienisch zu sprechen. Wenn sie schon etwas fortgeschritten sind, könnten sie jetzt merken: «Oh weh, ich wechsle gerade auf gelb.» Dann kann ich meinen Kindern kommunizieren: Ich bin echt müde, wie kommen wir gut durch den Tag? Ich spreche von mir und meinem Zustand. Sie erfahren so, dass ich auch schlechte Tage habe und einen Weg damit zu finden versuche. Wenn ich sie mal anschnauze, können sie das besser einordnen und nehmen es nicht persönlich. Resilienisch ist eine stärkende Sprache, weil sie den Selbstwert der Kinder nicht angreift.
Gelingt es Ihnen in aufgeladenen Situationen immer, Resilienisch zu sprechen?
Nein, es gibt Momente, da bin ich froh, dass mich die Eltern aus den Kursen nicht sehen. Es geht auch nicht darum, perfekt zu sein. Resilienisch soll keinen Extradruck in den Familienalltag bringen. Ich halte hier die 80/20 Regel für ein gutes Ziel: Es ist schön, wenn ich es schaffe, in etwa 80 Prozent der Fälle so zu reagieren, wie ich es möchte. In den anderen Fällen kann ich meinen Kindern zeigen, wie man wieder zueineinanderfindet.
Waren Sie selber schon immer resilient?
Ich habe eine Lese-Rechtschreibschwäche und hatte eine herausfordernde Schulzeit. Das war aber auch ein gutes Resilienztraining. Meine Eltern haben mir vertraut und zu spüren gegeben, dass ich meinen Weg gehen werde. Gerade bei Kindern, die Probleme in der Schule haben, ist die Begleitung wichtig. Auch deshalb will ich Resilienisch in die Welt bringen.
Was wünschen Sie sich für Ihre Herzenssprache Resilienisch?
Dass diese Sprache so viele Menschen erreicht wie möglich. Corona-Krise, Krieg, Klimawandel, die Welt bringt in letzter Zeit viele Herausforderungen mit sich. Ich glaube, dass wir deshalb tatsächlich viele resiliente Menschen brauchen, die einen Umgang damit finden und nicht in der Hilflosigkeit versinken. Im Moment sind wir noch im deutschsprachigen Raum unterwegs, vielleicht irgendwann im englischsprachigen. Mein Mann ist Australier. Das Schöne ist, dass wir in einer Zeit leben, in der sich viele Menschen ähnliche Dinge beibringen. Ob das nun Resilienisch heisst oder anders, es sind viele gute Ideen da draussen. Ich freue mich, dass ich eine von vielen sein darf, die diese Haltung in die Welt bringen.
Nora Völker, 40, ist Psychologin, systemische Familienberaterin und Resilienztrainerin. Sie leitet ihre selbst gegründete ResilienzSchule, doziert an verschiedenen Weiterbildungsinstituten in Deutschland und der Schweiz. Zuvor hat sie mehrere Jahre als Psychologin an einem sonder - pädagogischen Förderzentrum und einer heilpädagogischen Tagesstätte gearbeitet und dort AD(H)S-Betroffene sowie leseund rechtschreibschwache Kinder gefördert. Nora Völker Munro lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München.