Pränatale Tests
Risikoschwangerschaft, was bedeutet das?
Die Spurensuche nach genetischen Defekten bei Embryos ist mit den neuen Bluttests einen Schritt weiter. Mit den Ergebnissen sind manche Eltern allerdings überfordert, denn die Pflicht zur präzisen Aufklärung vor dem Testen kommt oft zu kurz.
Vom absoluten Glücksgefühl über die Schwangerschaft bis zur totalen Bestürzung vergingen ein paar Wochen. «Mit 35 Jahren sind Sie eine Risikoschwangere », erklärte der Gynäkologe, den ich sehr mag und der mich bereits durch zwei frühere Schwangerschaften begleitet hatte. Risikoschwanger? Das war uns nicht bewusst gewesen. Nun gut. Doch nach dem Ersttrimester-Test war ich bereits hochrisikoschwanger. Der Grund war eine etwas auffällige Nackentransparenz und eine Zahl: 1:240. Es bestünde ein erhöhtes Risiko, erklärte der Arzt, dass unser Kind mit einer Chromosomenstörung zur Welt kommen würde. Normaler Durchschnittswert wäre in meinem Alter 1:300.
Die Rede war von Trisomie 21, dem Downsyndrom, der am häufigsten vorkommenden Störung bei sogenannten Spätschwangeren. Vor der Untersuchung hatten wir keine Ahnung, dass bei unserem Embryo nach Chromosomen-Störungen gesucht werden soll. Nun sassen wir schockiert und verunsichert vor dem Gynäkologen.
Was wollen wir wissen?
Auf Nachfragen erfuhren wir von weiteren möglichen Massnahmen: der Fruchtwasserpunktion mit der Gefahr einer Schädigung des Babys oder einer Fehlgeburt. Vom eingeleiteten Spätabbruch, bei dem unser Kind bereits im Bauch oder nach der Geburt sterben würde, sollten wir uns bei einem bestätigten Verdacht auf Trisomie 21 gegen das Kind entscheiden (das war vor dem neuen Nipt-Bluttest). Zum ersten Mal waren wir uns für einen kurzen Moment nicht mehr einig, was für unser Weiterleben entscheidend war.
Wir entschieden uns gemeinsam gegen weitere Untersuchungen. Aber das totale Glücksgefühl vom Anfang stellte sich nicht mehr ein. Die Angst war latent spürbar. Unsere Tochter kam gesund zur Welt.
Testergebnisse verunsichern Schwangere
Wir sind keine Ausnahme, erfahre ich von Franziska Wirz, Stellenleiterin der Telefon- und Online-Beratung appella. Seit 25 Jahren bietet appella unabhängige und unentgeltliche Beratung unter anderem zu Pränatal-Diagnostik und Geburt an. «Bei uns melden sich viele schwangere Frauen, die völlig verunsichert und mit Testergebnissen überfordert sind», so Franziska Wirz.
Ärzte verpassen öfter notwendige Vorinformationen und Aufklärungen, sagt die Fachfrau. Wozu sie eigentlich gesetzlich verpflichtet wären. So heisst es auf der Homepage des Bundesamts für Gesundheit BAG: «Vor allfälligen pränatalen Untersuchungen haben die behandelnden Ärztinnen und Ärzte die Pflicht, die schwangere Frau zu beraten. (…) Nach einer Bedenkzeit muss die schwangere Frau zu jedem Abklärungsschritt ihr Einverständnis geben.»
Zu 99,59 Prozent gesund
Dass dieses Gespräch bei uns erst nach den ersten Untersuchungen stattgefunden hatte, findet Franziska Wirz genauso problematisch wie, dass die Resultate der Ersttrimester-Tests generell in einem Verhältniswert kommuniziert würden. «Es wäre anschaulicher und verständlicher, wenn der Wert als Prozentzahl mitgeteilt würde.» Sie rechnet vor, dass das Risiko in unserem Fall (1:240) umgerechnet bedeutet hätte, dass unser Baby zu jenem Zeitpunkt zu 99,59 Prozent gesund gewesen ist. Ich bin baff. Für uns wäre dieses Ergebnis eine gute Nachricht gewesen. Wir hätten uns einfach weiter gefreut.
4 von 5 Frauen sind risikoschwanger
Etwa 80 Prozent der schwangeren Frauen würden heute in der Schweiz als Risikoschwangere eingestuft. «Nur schon die Formulierung ‹Risiko› verursacht Stress bei vielen Paaren», so Wirz. Statt der von der Krankenkasse bezahlten sieben routinemässigen Kontrollen und der zwei Ultraschalle ist die Agenda voll mit Arztterminen. Ultraschall wird bei fast jedem Termin gemacht, gerechtfertigt mit der Risiko-Einstufung, bezahlt von den Krankenkassen. Untersuchungen wie etwa der neue, nicht invasive genetische Bluttest Nipt, der allfällige Chromosomen- Störungen nachweisen soll, werden als Routinemassnahme verstanden.
Recht auf Nichtwissen
Der Druck auf die Frauen, um jeden Preis ein gesundes beziehungsweise ein nicht behindertes Kind zur Welt zu bringen, sei heute grösser denn je. «Die Situation hat sich zugespitzt, denn bei der Frage, ob die Nipt-Bluttests kassenpflichtig werden sollen, wurde eine einschneidende und folgenschwere Entscheidung getroffen, mit weitreichenden Folgen für die schwangere Frau», schreibt appella in ihrer Infobroschüre «Schwangerschaftsvorsorge – wie gehen wir damit um?».
Der Beschluss lautete, dass die Grundversicherung die Kosten für den Test bezahlt, wenn zuvor der Ersttrimester-Test ein erhöhtes Risiko von 1:1000 ergeben hat. «Ein Promille soll ein erhöhtes Risiko bedeuten? Das heisst, das Kind ist zu 99,9 Prozent gesund. Welch abwegige Entscheidung», ärgert sich Franziska Wirz. Vor diesem Beschluss wurde noch bei 1:300 vom «grünen Bereich» gesprochen.
Neben den drei Trisomien können einige der Nipt-Tests rund 15 weitere Chromosomen-Störungen feststellen. Das kann zu weiteren Problemen führen. «Wir haben Anfragen von Eltern, die etwa mit einer der Geschlechtschromosomen-Störungen Klinefelter- oder Turner-Syndrom konfrontiert werden. Sie wussten weder, dass ihr Embryo auf diese Störungen getestet werden sollte, noch, was die Diagnose überhaupt bedeutet», so Andrea Fenzl, appella- Beraterin und Hebamme im Geburtshaus Delphys in Zürich.
Es ist völlig legitim und nachvollziehbar, dass viele werdende Eltern alle Untersuchungen, die möglich sind, machen lassen wollen. Erst wenn sich keine Auffälligkeiten ergeben haben, sind sie beruhigt und können sich auf das Kind freuen. «Keiner sollte sich gezwungen oder bevormundet fühlen», sagt Hebamme Andrea Fenzl. Es gibt ein Recht auf Wissen. Und es gibt ein Recht auf Nichtwissen.
Keine Garantie auf ein gesundes Kind
Fakt ist: Kein Test, keine Untersuchung bietet die Garantie auf ein gesundes Kind. Fakt ist aber auch: Die meisten Babys kommen gesund zur Welt. «Doch anstatt auf die eigene Stärke zu vertrauen, fühlen sich Frauen heute gestresst», erzählt Andrea Fenzl aus ihrem Alltag bei appella. Statt «guter Hoffnung» zu sein, mache sich Angst und Verunsicherung breit. Was mit sich bringe, dass Schwangerschaften oft länger geheim gehalten werden, Kindsbewegungen nicht mehr als solche wahrgenommen und Gedanken über das zukünftige Leben mit dem Kind verdrängt werden. «Die Frau fühlt sich schwanger auf Probe», so Fenzl.
Ärzte unter Druck
Viele Gynäkologinnen und Gynäkologen machen ihre Arbeit gewissenhaft. So sagt Gwendolin Manegold-Brauer, leitende Ärztin Gynäkologie und Geburtshilfe im Universitätsspital Basel: «Wir beraten die Schwangeren bei der ersten Schwangerschaftskontrolle über die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik.» Am Tag des ersten «grossen» Ultraschalls finde nochmal eine Aufklärung statt. Danach würden die Frauen individuell bezüglich ihres Ergebnisses beraten. Pränatale Diagnostik sei allerdings sehr komplex, Risikoberechnungen und Zahlen könnten Ängste und Ungewissheit auslösen. «Es ist unsere Aufgabe, richtig zu kommunizieren », so Manegold-Brauer.
«Ärzte lernen in ihrer Ausbildung, Krankheiten zu diagnostizieren und Symptome zu behandeln», sagt appella- Stellenleiterin Franziska Wirz. Schwangerschaft ist zwar keine Krankheit, dennoch liegt der Schwerpunkt der ärztlichen Kontrollen bei der Fahndung nach Abweichungen von der Norm, beim Kind und der Mutter.
Doch Ärzte stehen vermehrt unter Druck. Sie dürfen bei einer Schwangerschaft nichts verpassen. Kommt ein Kind krank auf die Welt, fragen sich die Eltern, hätte man das nicht sehen müssen? Schadenersatzklage gegen den Arzt wegen Baby mit Downsyndrom? Das gibts. Auch in der Schweiz.
Jedoch steht bei der Ärzteschaft bei einer entsprechenden Diagnose nicht nur die Frage im Zentrum, Kind behalten oder nicht. «Es geht auch darum, dass die Eltern bestmöglich vorbereitet sind und dass die betreuenden Ärzte die optimale Versorgung des Kindes gewährleisten und die bestmöglichen Vorkehrungen für das Kind treffen können», so Gwendolyn Manegold-Brauer. Sei es etwa für nötige Abklärungen bei Spezialisten, für operative Eingriffe während der Schwangerschaft oder die Versorgung gleich nach der Geburt in entsprechend spezialisierten Kliniken.
Eltern sollen sich informieren
Bei appella geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Aufklärung. Franziska Wirz spielt den Ball an die Eltern zurück: «Wir fragen uns schon auch, warum die Eltern ihre Eigenverantwortung nicht vermehrt wahrnehmen. Warum sie sich nicht im Voraus selber informieren und sie beim Arzt nicht mehr nachfragen.» Zum Beispiel auch über alternative Möglichkeiten. «Eine Frau muss nicht zwingend zum Gynäkologen. In einigen Ländern werden Schwangere grundsätzlich von Hebammen betreut», so Andrea Fenzl. Nur wenn es medizinisch nötig ist, wird die Frau an einen Gynäkologen überwiesen.
Hebammen im Aufwind
Auch in der Schweiz scheint die hebammenbetreute Schwangerschaft ein wachsendes Bedürfnis zu sein. Mit der Änderung der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) haben schwangere Frauen seit dem 1. Januar 2017 die Wahl freiheit, ob sie sich in der Schwangerschaft primär von einem Arzt, einer Ärztin oder einer Hebamme betreuen lassen möchten. Seither hat sich die Zahl der hebammenbetreuten Schwangerschaften im Jahr 2018 auf 26531 mehr als verdoppelt. Frauen werden zu Hause oder in Hebammenpraxen betreut. Die obligatorische Krankenkasse übernimmt die Kosten und die beiden Ultraschall-Untersuchungen beim Gynäkologen.
Mehr Nähe, weniger Risiko
Auch Kliniken weiten ihr Angebot aus. Das Zürcher Stadtspital Triemli bietet Hebammensprechstunden und hebammengeleitete Geburtshilfe an. Das Kantonsspital Aarau KSA verfügt seit Oktober 2019 über ein Geburtshaus. Das im Jahr 2017 gestartete Pilotprojekt für hebammengeleitete Geburten wurde 2019 mit der Inbetriebnahme der Stadtvilla «Nordstern» auf dem Gelände des KSA als feste Institution etabliert. «Gesunde Schwangere ohne geburtshilfliche Risikofaktoren werden bereits in der Schwangerschaft alternierend durch den Frauenarzt und durch die Hebammebetreut», sagt Monya Todesco Bernasconi, Chefärztin Geburtshilfe und Initiantin des Geburtshauses. Das Konzept sieht vor, dass die Frauen bei der Geburt 1:1 durch die zuständige Hebamme betreut werden, die sie bereits seit Monaten kennen. Dies stärke die Fähigkeit der Frauen, eine risikoarme Geburt in der Regel ganz ohne Interventionen zu meistern. «Die Paare, die sich für dieses Modell entscheiden, schätzen die individuelle Betreuung und zugleich die Nähe zur Frauenklinik und der Neonatologie», so Monya Todesco Bernasconi. Das Angebot findet offenbar Anklang. Im Jahr 2018 kamen im Geburtshaus des KSA 84 Babys zur Welt, 2019 waren es bereits 113 Kinder.
«Aus internationalen Studien ist bekannt, dass Frauen vor allem die längere Beratungszeit bei der Hebamme schätzen», so Andrea Fenzl, die selbst schwangere Frauen bis nach der Geburt begleitet. Zudem zeige sich, dass mit diesem Modell bei gesunden Frauen grundsätzlich weniger Untersuchungen und weniger Interventionen durchgeführt werden als im ärztlichen Betreuungsmodell.
Auch die Zahl der Geburtshäuser ist in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren auf 22 angestiegen. «Die Freude an der Schwangerschaft, die Freude auf das Kind und die Stärke und das Vertrauen in den eigenen Körper steht bei unserer Arbeit im Vordergrund», so Andrea Fenzl.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.