Vaterzeit
Am Küchentisch mit Mozart
Zwischen dem Vater unseres Kolumnisten und seiner Tochter liegen fast 100 Jahre. Das hat Folgen – für alle.
Ich mache mittlerweile Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich meine nun nicht, um 20.15 Uhr schlafen zu gehen. Ich meine vielmehr, dass ich nie daran dachte, meine Vergangenheit aus der Wohnung zu räumen. Doch siehe da, ich brachte 3000 CDs, 1000 LPs und sackweise Bücher zu einem Antiquar. Der Grund ist ein Jahr alt, hat vier Zähne und braucht Platz.
Aber ich mache auch viele Dinge nicht. Und jetzt wirds heikel, es geht nicht darum, dass ich keine Romane mehr lese, sondern es geht um die Rollenverteilungen in der Kindererziehung. Vielleicht ist die Verteilung von Luules Mami und mir falsch, aber ich habe dafür immerhin eine Erklärung.
Nicht nur Luule hat ja einen 20 Jahre älteren Vater als die meisten ihrer Kita-Freundinnen, sondern auch ich: Mein Vater wurde 1925 geboren, ich 1970 und Luule 2022. In den fast 100 Jahren zwischen seiner und Luules Geburt fehlt somit eine Generation. Kommt hinzu, dass mein Vater im post-zaristischen Lettland aufwuchs und nach dem 2. Weltkrieg mit null und nichts an Materiellem sein Erwachsenenleben begann.
Niemals «blublu, dada, dudu»
Das wird für Luule Folgen haben. Denn ich mache mir bei allen pubertären Rebellionen und Anpassungen an den Zeitgeist nichts vor: In mir steckt viel von meinem Vater. Sprüche der Freunde à la «Du bist nicht von gestern, sondern von vorgestern» nahm ich jeweils gelassen hin. Mein Vater war Opernfanatiker, ich wurde Opernkritiker. Er ass nichts lieber als Fisch, ich wurde Hechtfischer. Aber es geht um mehr, um Veranlagungen, die ich nicht mehr aus meinem Wesen bringe. Die Mozartliebe etwa oder die Sparsamkeit, um ein beziehungsdramatisches Donnerwort in die Runde zu werfen.
Und es gibt kleine Dinge, die ich auch heute genauso wenig mache wie mein Vater damals. Zum Beispiel fahre ich nicht «blublu», «dada», «dudu» plaudernd mit Luule von Zürich nach Luzern. Ich erkläre ihr bei einer solchen Fahrt auch nicht die Welt, schliesslich degustiert sie lieber kauend das Zugabteil-Tablar, ehe sie merkt, dass es sich als Schlagwerk besser zum Aufwecken der Frau gegenüber eignet.
Mein Vater spielte nie mit uns Kindern. Er wollte, und das war viel schmerzlicher, uns auch nie Comics schenken. Wennschon, dennschon richtige Bücher: Hesse & Rilke statt Tim & Struppi. Eine Ausnahme waren zwei Bildbände – «Moby Dick» und der «Fliegende Holländer» –, die mein Bruder und ich mit fünf erhielten. Sehe ich heute eine Neuinszenierung von Wagners Oper «Der fliegende Holländer», muss ich immer an die Bilder aus diesem Buch denken. Und als ich dann mit 50 endlich Herman Melvilles «echten» «Moby Dick» las, war ich davon so fasziniert, dass ich meinem Vater dankbar war für das Anfixen 45 Jahre zuvor.
Morgenstunden mit Luule
Statt nach langanhaltenden Folgerichtigkeiten in der Beziehung zwischen Vater und Kind zu suchen, verfällt man leider öfter in dieses: «Mein Vater hätte nie eine Windel gewechselt.» Und so denkt Luules Mami bestimmt manchmal auch, wenn ich für einen Ausflug mal wieder die Wickeltasche vergessen habe, dass ich noch nie Windeln bestellt oder mich noch nie um die Kleidchen von Luule gekümmert habe. Von diesen 290 anderen Gerätschaften, die mittlerweile angeschafft wurden, ganz zu schweigen – Dingen, die ich vor einem Jahr nicht mal benennen, geschweige denn zeichnen konnte.
Egal. Ich frage mich nicht, welche Aufgabe ich in der Luule-Erziehung habe. Luule und ich haben uns auch so sehr gerne. Unter anderem verbrachten wir im letzten Jahr hunderte von Morgenstunden in der Küche und hatten dort sehr viel Spass. Es wird gemunkelt, dass die estnische Grossmutter Luule einen Lernturm zu Weihnachten schenken wird. Dann werden Luule und ich, am Küchenradio Mozart hörend, die von ihr geliebten BabyHechtburger gemeinsam kochen und sogar etwas Senf dazugeben, obwohl mein Vater das niemals gemacht hätte.