Vaterzeit
588 Tage getrennt von Luule
Trennungsschmerz wegen ein paar Tagen war unserem Autor bislang fremd. Bis er Vater wurde und das erste Mal ohne seine Tochter war. Und plötzlich überall andere Babys sah.
Blöd allerdings, denke ich zurzeit dauernd, was Luule treibt. Sie ist nämlich mit ihrem Mami in den Sommerferien in Estland geblieben, derweil ich in der Schweiz gebraucht werde und schliesslich nach Salzburg zu den Festspielen reise. Doch was soll Luule schon aus eigenem Antrieb machen, ausser in die Hose? Und so frage ich mich natürlich dauernd: Was macht Luules Mami?
Zehnmal 24 Stunden lang soll ich Luule nicht mehr sehen. Klar, ich bin beschäftigt, aber dennoch: Zehn Tage sind sogar in einem alten Menschenleben viel, aber in einem Babyleben? Luule ist ja erst 290 Tage alt, somit wird sie 3 Prozent ihrer bisherigen Lebenszeit ihren Vater nicht sehen, was hochgerechnet auf mein Leben 588 Tage sind. Die Entfremdung, so male ich schwarz, wird bleibende Schäden in unserer Beziehung nach sich ziehen. Jetzt schon zittere ich dem Wiedersehen entgegen, frage mich dauernd: Wird sie mich noch kennen? Wird sie mich nach zehn Tagen, in denen sie von morgens bis abends Estnisch hörte, noch verstehen?
Wo ist Luule?
In der ersten Nacht allein zu Hause wache ich um 1 Uhr auf, schaue im Halbschlaf in Luules Bett und erschrecke. Blitzartig schaue ich auf die andere Seite des grossen Bettes – keine Luule. Es dauert noch fünf Sekunden, bis der Schlaf dem Wachsein weicht, ich das Zimmer erkenne und merke, was los ist: Luule ist nicht da.
Ich glaube, Luules Mami weiss um meine Angst. Sie ruft jedenfalls täglich per Video zwei- oder dreimal an. «Schau, da ist Papa!», sagt sie dann hocherfreut. Luule lächelt jeweils, winkt mir auch mal zu und plaudert blubbernd und blabbernd drauflos. Das beruhigt mich. Ebenfalls beruhigt beobachte ich, dass in diesen Lauten beim besten Willen keine estnischen Worte zu erkennen sind. Sogar das Wort «Emme» (estnisch «Mama»), das Luule noch während unserer gemeinsamen Ferientage 45-mal pro Stunde sagte, ist verschwunden.
Am zweiten luulelosen Tag interviewe ich in Montreux eine weltberühmte Pianistin, auf dem Arm trägt sie ihr zwei Monate altes Baby. Wir erwähnen keinen einzigen Komponisten, reden viel mehr über Karriere und Baby, bald fragt sie, wann man mit Breiessen beginnen könne. Ich bin jetzt Baby-Experte – unglaublich. Am Ende zeige ich ihr Fotos von Luule und weiss: Ein eigenartigeres Interview habe ich noch nie gemacht. Doch was macht Luule heute?
Überall Babys
Am sechsten luulelosen Tag reise ich nach Salzburg zu den Festspielen. Kaum erklingen am Abend die ersten Takte von Verdis «Macbeth», zeigt der Regisseur ein Video mit einem Baby auf einer Wiese. Obwohl es alsbald liebevoll gestillt wird, kommen dunkle Vorahnungen auf, prompt habe ich erneut eine schlechte Nacht. Am nächsten Morgen sitze ich um 9 Uhr in der Franziskanerkirche, höre eine Mozartmesse und erinnere mich, wie ich als Fünfjähriger mit meinen Eltern am selben Platz sass und auf den Opfergeld-Sammler wartete, der uns Knirpsen jeweils ein Bonbon zusteckte. Ich verspreche mir und Luule: In vier Jahren werde ich mit ihr hier sitzen und auf Bonbons warten. Doch all diese Ersatzhandlungen nützen wenig: Luule ist nicht da.
Nach der Rückreise öffne ich vorsichtig die Wohnungstür, sage leise «Hallo». Wird sie mich erkennen? Dumm, es ist Mittwoch und Luule in der Krippe, was mich noch unruhiger macht. Dort soll ich sie in zwei Stunden sehen, dort, wo sie reizüberflutet und übermüdet jeweils kaum ein Lächeln hervorbringt, wenn ich sie um 18.15 Uhr abhole? Doch siehe da: Luule lacht und zappelt, als sie mich sieht. Abwarten, hätte ich, der Luule nun strahlend in Schlangenfahrt nach Hause fährt, mir sagen sollen. Auf der Strasse treffen wir nämlich einen Bekannten, den Luule noch nie getroffen hatte: Sie lacht und zappelt, als sie ihn sieht.