Zwillinge
Zu zweit zu früh
In der Schweiz kommen sieben Prozent der Kinder zu früh zur Welt. Ein Grund dafür ist die Fortpflanzungsmedizin.
Zwillinge
«Zwillingsrekord» meldete das Inselspital Anfang Januar 2012. Im Universitätsspital Bern wurden 2011 65 Zwillingspärchen geboren – so viele wie nie zuvor. 2003 gab es in der «Insel» nur halb so viele Zwillingsgeburten. Chefarzt Daniel Surbek macht unter anderem die künstliche Befruchtung für den Trend verantwortlich, der sich auch in der nationalen Statistik spiegelt: 2006 gab es 1194, 2010 bereits 1478 Geburten mit zwei Babys und mehr.
Der Kindersegen hat eine Kehrseite: Viele Mehrlinge werden zu früh geboren. Das zeigen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik: 2010 kamen 46,1 Prozent der Mehrlinge als Frühgeburten (32 bis 36 Wochen) zur Welt, 5,6 Prozent von ihnen waren frühe Frühgeburten (28 bis 31 Wochen), und 3,1 Prozent kamen extrem früh zur Welt, das heisst zwischen der 22. und 27. Schwangerschaftswoche. Gemessen an der Gesamtzahl der Geburten hat sich der Anteil der Frühgeborenen seit 2007 bei etwa sieben Prozent eingependelt. Doch weil in der Schweiz die Geburtenrate steigt, kommen zahlenmässig immer mehr Kinder zu früh zur Welt. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, hat die Frühchen-Rate allerdings auch proportional zugenommen. Fachleute führen dies auf die in den letzten Jahrzehnten boomende Fortpflanzungsmedizin zurück. Für die Tatsache, dass die neonatologischen Abteilungen der Spitäler chronisch voll sind, gibt es einen weiteren Grund: der medizinische Fortschritt.
1982 begannen Zürcher Neonatologen erstmals damit, Kinder mit weniger als 1000 Gramm Geburtsgewicht zu behandeln. Seither haben sich die Grenzen laufend verschoben. In der Schweiz haben sich die Neonatologen auf 24 Wochen als Grenze zur Lebensfähigkeit geeinigt. Solche «Frühchen» verbringen nicht Wochen, sondern Monate in der Neonatologie.
Eine Studiengruppe der Universitätsspitäler Zürich und Lausanne hat kürzlich untersucht, wie sich Mehrlingsgeburten in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren im Zusammenhang mit Frühgeburtlichkeit entwickelt haben. Die Gruppe unter der Leitung von Romaine Arlettaz analysierte die Daten von Drillings-, Vierlingsund Fünflingsgeburten über diesen Zeitraum. Ihre wichtigsten Resultate: Zwar wurden nach 2001 deutlich weniger Vierlinge und keine Fünflinge mehr geboren; gemäss Gesetz dürfen seither bei In-vitro-Fertilisation (IVF) nur noch drei Embryonen in die Gebärmutter transferiert werden.
Ganz anders hingegen der Trend bei den Drillingen: In 20 Jahren nahmen Drillingsgeburten um 40 Prozent zu. «Dieser Anstieg ist alarmierend», schreibt das Forschungsteam. Es vermutet, dass nebst der künstlichen Befruchtung auch Hormonbehandlungen dafür verantwortlich sind. «Es gibt kein Gesetz, das den Ärzten verbieten würde, ihren Patientinnen Hormonprodukte zu verschreiben, die die Ovulation stimulieren.» Um die Gesundheit der Drillinge stand es oft nicht zum besten: Drillings-Mütter entbanden 2008 im Schnitt eine Woche früher als 1988, das durchschnittliche Geburtsgewicht der Babys fiel um 10 Prozent auf 1614 Gramm. Frühchen haben in der ersten Lebensphase oft mit Komplikationen zu kämpfen, die vor allem den Kreislauf und die Atmung betreffen. «Die Fortpflanzungsmedizin ist in der Schweiz nicht unter Kontrolle» schliesst das Team aus seinen Daten. Und: Unfruchtbarkeit sollte nur von anerkannten Fachärzten behandelt werden.
Kommt das Baby zu früh zur Welt, sind die Eltern enorm gefordert: Sie sorgen sich um die Gesundheit des Babys, verbringen Wochen und gar Monate in einer fremden hochtechnisierten Umgebung und müssen mit ständiger Unsicherheit leben. Ab dem Frühsommer 2012 bietet das Inselspital Bern seinen Frühchen-Eltern das in den USA entwickelte «Cope»-Programm an: In vier Sitzungen lernen Eltern, wie sie trotz Monitoren und Schläuchen in engen Kontakt mit ihrem Kind treten können. Studien zeigen, dass derart geschulte Eltern weniger gestresst sind und viel seltener an einer Überforderungs-Depression leiden. Ausserdem fördert das Programm, welches gleich nach der Geburt beginnt, das Bonding mit dem Baby. Das Inselspital ist das erste Spital in Europa mit der «Cope»-Lizenz.