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Babykosmos
Zu viel Zucker in der Schwangerschaft?
Schwangerschaftsdiabetes ist die häufigste Komplikation bei werdenden Müttern. Wird er nicht behandelt, kann dies zu gesundheitlichen Problemen bei Mutter und Kind führen. Doch häufig kommt es auch zu Überdiagnosen.
Sprachlos starrte ich den Arzt an, der mir verkündete: «Sie haben Schwangerschaftsdiabetes, deshalb leiten wir die Geburt nach 40 Wochen ein.» Ich war in der 36. Woche mit unserer zweiten Tochter schwanger und war bei einer Kontrolle in dem Spital, in dem ich gebären wollte. Einzuleiten, ohne überhaupt einmal zu schauen, wie es mir und meinem Baby ging, kam für mich nicht infrage. Zumal ich mir ziemlich sicher war, dass ich nur durch einen blöden Zufall in die Sache mit der Schwangerschaftsdiabetes hineingerutscht war.
Das kam so: Zwischen der 24. und 28. Woche wird in der Schweiz seit 2011 bei jeder Schwangeren getestet, ob ihre Blutzuckerwerte erhöht sind (siehe Box). Da ich dafür frühmorgens nüchtern in die Praxis musste, schlief unsere Tochter auswärts. Also nutzten mein Mann und ich die Gelegenheit und gingen am Vorabend in ein Restaurant schön essen, spätabends und üppig. Was natürlich völlig unüberlegt war, wie ich am nächsten Morgen feststellen musste. Mein Nüchternblutzuckerwert lag leicht über dem Grenzwert. Diagnose: Schwangerschaftsdiabetes, im Fachjargon Gestationsdiabetes genannt.
Ich ging zur Ernährungsberatung und musste fortan viermal täglich meine Blutzuckerwerte messen. Mit Ausnahme von einem Mal lagen sie immer im normalen Bereich. Und dies, obwohl ich meine Ernährung nicht angepasst hatte. Mit der Zeit durfte ich die Blutzuckermessungen reduzieren. Doch das Etikett Gestationsdiabetes – und somit Risikoschwangere – wurde ich nicht mehr los.
Übergrosse und schwere Babys
Allein war ich mit dieser Diagnose keineswegs. Schwangerschaftsdiabetes gehört zu den häufigsten Komplikationen und betrifft in der Schweiz 11 Prozent der werdenden Mütter. Dabei sind die Blutzuckerwerte erhöht, weil der Körper nicht in der Lage ist, genügend Insulin – ein Hormon aus der Bauchspeicheldrüse – zu produzieren. Mit den Hormonveränderungen der Schwangerschaft erhöht sich der Insulinbedarf der werdenden Mutter. Durch die Plazenta gelangt der Zucker zum Fötus, der seinerseits ebenfalls mehr Insulin produziert. Dadurch wird das Wachstum und ein vermehrter Fettaufbau angeregt, was zu übergrossen und schweren Babys führt.
Zum einen treten bei solchen Babys vermehrt Komplikationen und Verletzungen unter der Geburt auf, weil sie etwa mit den Schultern im Geburtskanal stecken bleiben können. Bei Babys mit über vier Kilogramm Geburtsgewicht sind daher Kaiserschnitte häufiger. Zum anderen führt ein unbehandelter Gestationsdiabetes zu weiteren gesundheitlichen Problemen bei Mutter und Kind. Dazu gehören Frühgeburten, eine Unterzuckerung des Babys nach der Abnabelung oder Anpassungsstörungen nach der Geburt wie Probleme mit der Atmung, die eine Überwachung auf der Intensivstation nötig machen. Die Mutter weist zudem ein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck oder gar eine Präeklampsie – im Volksmund Schwangerschaftsvergiftung genannt – auf, die im schlimmsten Fall tödlich verlaufen kann. Ausserdem haben Studien gezeigt, dass übergrosse Babys später im Leben eher einmal übergewichtig werden.
Grenzwerte sind nicht eindeutig
Gestationsdiabetes zu erkennen und zu behandeln, ist also überaus wichtig. 85 Prozent der Betroffenen bekommen ihren Blutzucker mit einer Ernährungsumstellung und vermehrter Bewegung in den Griff. Die übrigen 15 Prozent müssen Insulin spritzen.
Um Gestationsdiabetes zu erkennen, folgt die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) den Empfehlungen einer internationalen Expertengruppe. Diese hat die Grenzwerte für das Screening festgelegt und stützt sich dabei auf die Studie «Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcome (HAPO)». Vereinfacht gesagt kam die HAPO-Studie zu folgendem Schluss: Je höher die mütterlichen Blutzuckerwerte, desto mehr beeinflussen sie den Schwangerschaftsverlauf sowie das Wachstum des Fötus und den Blutzuckerwert des Neugeborenen. Eine Grenze, ab welcher die Werte problematisch sind, konnten die Studienautoren nicht festlegen, wie aus einem Artikel aus der Deutschen Apotheker Zeitung hervorgeht. Deshalb hat die Expertengruppe solche definiert. Diese Werte sind deutlich tiefer als jene für die Diagnose des Diabetes Typ II. Bemerkenswert ist auch, dass andere Länder andere Testverfahren und Grenzwerte anwenden. Wer in der Schweiz Schwangerschaftsdiabetes hat, ist in Grossbritannien oder in den USA nicht zwingend auch betroffen.
Irene Hösli, Gynäkologin und Expertin für Gestationsdiabetes
Bei allen werdenden Müttern in der Schweiz wird zwischen den Schwangerschaftswochen 24 und 28 ein Test durchgeführt, der ermittelt, ob die Patientin an Gestationsdiabetes leidet. Der Test sollte zwischen 6 und 9 Uhr stattfinden und die Schwangere darf mindestens acht Stunden nichts gegessen oder Zuckerhaltiges getrunken haben. In einem ersten Schritt wird in einem Bluttest der Nüchternblutzucker bestimmt. Anschliessend muss die Patientin eine Zuckerlösung bestehend aus 75 Gramm Glucose trinken. Nach einer und zwei Stunden wird ihr Blutzuckerwert wieder gemessen. Dabei gelten folgende Grenzwerte zur Diagnose des Gestationsdiabetes:
Nüchternblutzucker
≥ 5,1 mmol/l
Blutzucker nach einer Stunde
≥ 10 mmol/l
Blutzucker nach zwei Stunden
≥ 8,5 mmol/l
Ist ein einziger Wert erhöht, steht die Diagnose Gestationsdiabetes. Die Betroffene muss zur Ernährungsberatung und mehrmals täglich ihren Blutzucker messen. Nur falls sie die Werte mit einer Ernährungsumstellung und mehr Bewegung nicht in den Griff bekommt, muss sie Insulin spritzen.
Als Risikofaktoren für Gestationsdiabetes gelten:
• Alter über 35 Jahre
• Übergewicht (Body-Mass-Index über 30) zu Beginn der Schwangerschaft
• Diabetes Typ II in der Familie (Eltern oder Geschwister)
• Afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Herkunft
• Gestationsdiabetes in einer früheren Schwangerschaft
• Frühere Geburt eines Kindes mit Geburtsgewicht über 4 Kilogramm
Risikofaktor Übergewicht
Seit in der Schweiz routinemässig gescreent wird, erhalten dreimal mehr Frauen die Diagnose Schwangerschaftsdiabetes als zuvor. Ein Nebeneffekt sind die sogenannten Überdiagnosen: Eigentlich gesunde Frauen ohne Risikofaktoren gelten als zuckerkrank, weil ein einziger Wert erhöht ist. Plötzlich als Risikoschwangere zu gelten, kann verunsichern. Mehrmals täglich den Blutzucker messen zu müssen, kann Stress bedeuten. Schätzungen gehen davon aus, dass es sich bei jeder 20. Diagnose um eine Überdiagnose handelt, so Irene Hösli. Sie war bis 2022 Chefärztin Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin an der Frauenklinik am Universitätsspital Basel. Derzeit überarbeitet sie mit einem Team von Expert:innen die Leitlinien zum Umgang mit Gestationsdiabetes in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich.
Um der Problematik Überdiagnose zu begegnen, plädiert Irene Hösli dafür, dass «die Schwangeren mit der Diagnose Gestationsdiabetes individuell und mit Augenmass behandelt werden.» Zudem sei eine gute Aufklärung der Frauen wichtig. Bei einem gut eingestellten Schwangerschaftsdiabetes, bei dem das Kind normal gross sei, gäbe es keinen Grund für eine Geburtseinleitung. «Allerdings entstehen dabei nach der 39. Woche auch keine Nachteile», erklärt sie. Die Rate an Kaiserschnitten sei nicht höher als bei einer spontan ausgelösten Geburt.
Trotz der Überdiagnosen ist Irene Hösli vom Grenzwert und dem Vorgehen in der Schweiz überzeugt: «Wir haben bisher nur die schlüssigen Daten der HAPO-Studie. Eine neuseeländische Studie aus 2022 hat zudem gezeigt, dass auch Frauen, die nur knapp über den Schwellenwerten lagen, also einen milden Gestationsdiabetes hatten, von einer Behandlung profitierten. Sie bekamen weniger sehr schwere Kinder.» Weltweit gäbe es immer mehr übergewichtige Frauen, ein Risikofaktor für das Entwickeln eines Gestationsdiabetes. Auch daher sei das Screening sinnvoll. Bei Schwangeren ohne Risikofaktoren, die einen tiefen Nüchternblutzuckerwert (unter 4,4 mmol/l) aufweisen, könne in der Schweiz auf das Trinken der Glucoselösung verzichtet werden. «Damit vermeiden wir in 40 bis 60 Prozent der Fälle einen aufwendigen Test und verpassen nur sehr wenige Schwangere mit einem Gestationsdiabetes. Ich bin sicher, dass wir künftig ein Verfahren finden werden, das individuelle Faktoren besser einbeziehen wird», sagt Irene Hösli. «Bislang hat uns aber noch keines überzeugt.»
Drei Tage normal essen und trinken
Um falsche Diagnosen zu vermeiden, ist es wichtig, dass Schwangere vor dem Test einiges beachten. «Infektionen wie zum Beispiel eine Atemwegserkrankung, die Einnahme von bestimmten Medikamenten oder körperliche Belastung vor dem Test können den Blutzuckerwert beeinflussen», erklärt Irene Hösli. In den drei Tagen vor dem Test sollten sie wie gewohnt essen und trinken. Also nicht extra auf Kohlenhydrate verzichten, aber auch nicht übermässig schlemmen.
Asche auf mein Haupt. Meine Tochter jedenfalls tat mir einen grossen Gefallen: Sie kam einen Tag vor dem errechneten Termin zur Welt. Gesund, komplikationsfrei und mit durchschnittlichem Körpergewicht. Damit erübrigte sich die Frage nach der Einleitung.
In aller Regel verschwindet ein Gestationsdiabetes nach der Geburt wieder. Doch Betroffene weisen ein erhöhtes Risiko auf, später an Diabetes Typ II zu erkranken. «Um einen neu aufgetretenen Diabetes Typ II auszuschliessen, sollten die Frauen sechs bis acht Wochen nach der Geburt ein Screening auf Diabetes durchführen lassen», empfiehlt Irene Hösli. Je nach Risikofaktoren sei es zudem sinnvoll, jährlich Kontrollen durchzuführen.