monatsgespräch
«Wertloser Konsum ersetzt wertvolle Zeit»
wir eltern: Herr Fichter, «Konsumkids», «Markenjunkies » und «Shoppinggirls» machen Schlagzeilen. Sind unsere Kinder allesamt kleine Materialisten?
Christian Fichter: Nein, ganz sicher nicht. Aber tatsächlich definieren wir uns alle, viel stärker als früher, über den Symbolwert gewisser Produkte und Marken. Es gibt keinen anderen Grund, einen Nike-Schuh einem ohne Label vorzuziehen oder einen Audi zu fahren.
Den Audi kaufen aber die Grossen. Warum geraten auch bei diesem Thema wieder die Jugendlichen ins Kreuzfeuer?
Das ist sicher zum Teil eine Projektion, hat aber auch damit zu tun, dass sich im Alter zwischen 10 und 16 das Konsumverhalten von Kindern deutlich verändert. Es geht dann nicht mehr in erster Linie darum, sich selber darzustellen, sondern auch darum, in der Peergroup anerkannt zu werden. Das erzeugt Druck auf Jugendliche, aber natürlich auch auf die Eltern, die alles bezahlen sollen.
Ist es so einfach? Kaufen, um anerkannt zu werden?
Ja, der Mensch ist ein soziales Wesen und es ist für ihn zwingend, sich einer Gemeinschaft anschliessen zu können. Für Jugendliche besonders, da sie sich von der bisherigen, der Herkunftsfamilie, ablösen müssen. Sie werden dann plötzlich zu Emos, Hip- Hoppern, Fashiongirls, Skatern, Hippies ... Diese Gruppierungen schreiben gewisse Konsumationsmuster vor, die zur Abgrenzung dienen. Vereinfacht gesagt: Um bei den Hip-Hoppern anerkannt zu werden, muss man in erster Linie die richtigen Marken und Musikstücke einkaufen. Dazu kommen geheime Codes wie die richtige Begrüssung oder die richtige Art, die Kleider zu tragen. Das ist eigentlich ein natürlicher Vorgang. Eine Art Initiationsritus, um als vollwertiges Mitglied in eine Gruppe aufgenommen zu werden.
Das klingt fast romantisch ...
Daran ist im Grunde nichts Schlechtes. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Sache überbordet. Gelingt die Anerkennung in der Gruppe nicht, kann es passieren, dass der Jugendliche versucht, seinen Status dadurch zu verbessern, dass er noch mehr Waren präsentieren kann. Am liebsten so viel, dass er davon noch abgeben kann. Dieses Verhalten liegt in unserer biologischen Vergangenheit begründet. Wer am meisten Nahrungsmittel beschaffen konnte, stieg im Status.
Heute bewirtschaftet eine ganze Industrie dieses Bedürfnis.
Genau. Das ist das Perfide daran. Viele der Wünsche, die durch Marketingmassnahmen und Werbung geweckt werden, basieren auf menschlichen Grundbedürfnissen wie dem Wunsch nach Anerkennung, dem Jagd- und Sammeltrieb, dem Drang nach Aufmerksamkeit.
Sind Kinder und Jugendliche besonders anfällig dafür?
Sie sind Werbebotschaften ungeschützter ausgesetzt, einfach weil sie weniger Kontrolle über ihre Impulse haben als Erwachsene. Auch das ist gut so, denn ein Kind muss, um sich entwickeln zu können, explorieren, ausprobieren, die eigenen Grenzen erfahren. Es ist also völlig natürlich, dass Kinder alles wollen und am liebsten sofort.
Und es ist völlig natürlich, dass Eltern das nicht alles bezahlen können ...
Das sollen sie auch nicht. Eltern müssen Kinder, wie es so schön heisst, unterstützend begrenzen. In dem sie dafür sorgen, dass nicht jeder Wunsch erfüllt wird oder ein teurer Wunsch nur dann erfüllt wird, wenn zum Beispiel der Götti, die Grossmutter und die Eltern das begehrte Objekt gemeinsam schenken oder wenn das Kind einen Teil aus seinem Sackgeld beisteuert.
Die Realität sieht aber oft anders aus. Die meisten Kinder haben den eigenen Laptop, ein Handy, dazu einen iPod und wahrscheinlich mindestens eine Spielkonsole.
Das finde ich nicht grundsätzlich problematisch. Das sind ja nicht nur Konsumprodukte, sondern auch Geräte, die heute fast zwingend sind, um schulisch und im Kollegenkreis mitzuhalten. Ich glaube, man tut einem Kind keinen Gefallen, wenn man ihm in einem gewissen Alter keinen Laptop kauft oder ihm das Handy verbietet. Aber auch da, ganz klar, nur begleitet und begrenzt.
Verlieren Kinder denn nicht die Relationen, wenn sie ohne eigenes Zutun einen Laptop für 1000 Franken, ein Handy für 500, Schuhe für 200 Franken bekommen? Es mag ewiggestrig klingen, aber ich musste Babysitten gehen, um mir mein erstes Velo kaufen zu können.
Diese Gefahr besteht zwar, aber man muss dazu sagen, dass Kinder den finanziellen Wert von Produkten sowieso sehr lange nicht einordnen können. Sicher sollten Eltern den Kindern vermitteln, dass es nicht einfach normal ist, sich dieses und jenes einfach leisten zu können. Sinnvoll kann es auch sein, einen Geldbetrag zu visualisieren, zum Beispiel, in dem man für einen Wunsch «Fünfliber» in einem durchsichtigen Glas spart. Das macht schon Eindruck. Erwachsenen kommt das Gefühl fürs Geld übrigens auch je länger je mehr abhanden, oder wissen Sie noch, was 250 Gramm Butter kosten?
Ähm, ehrlich gesagt, nein.
Sehen Sie! Die Plastikkarte ist eine geniale Erfindung für alle, die etwas verkaufen möchten. Sie führt dazu, dass wir nicht mehr realisieren, wie viel wir für etwas ausgeben. Genau mit demselben Ziel versuchen Grossverteiler den Preis mit Strichcodes zu ersetzen. Der Kunde soll im Moment des Zugreifens nicht mit einem Preis konfrontiert werden.
Das klingt nach viel Aufklärungsarbeit für Eltern. Was ist denn mit all den Kindern, die keine Bezugsperson haben, die begrenzt und pädagogisch das Kässeli füllt?
Es tut mir Leid, aber da kann ich keine Entwarnung geben. So ein Kind verliert einen bedeutenden Teil seiner Lebenszeit als Kind. Man kann zwar sagen, wenn es erwachsen ist, kann es sich ja dann anderen Dingen zuwenden. Aber auch wenn das geschieht, ging viel wertvolle Zeit an den Konsum von sinnlosen Produkten und Medien verloren. Uneingeschränkter Konsum lässt ganze Biografien verarmen. Was hat ein Kind, das seine Freizeit vor dem Fernseher oder im Shoppingcenter verbringt, später schon zu erzählen? Was hat es erlebt? Welche Beziehungen erschaffen?
Viele Eltern verbringen selber einen grossen Teil ihrer Freizeit mit Shopping. Merkt ein Kind nicht, wenn man es «künstlich» beschränkt?
Doch natürlich. Kinder sind nicht blöd. Ich erinnere mich zum Beispiel an meinen Vater, der mir jedes Jahr versicherte, meine Skier seien noch lange gut genug, wobei er sich selber jeden Winter das neuste Modell kaufte. So funktioniert das nicht. Will man sein Kind davor bewahren, ein Konsumjunkie zu werden, geht das nicht, ohne das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen.
Das sagt sich so leicht. Neben Ihrem Computer liegt auch ein iPhone.
(Lacht.) Ich bin wohl auch einer der Therapeuten, die sich selber zu therapieren versuchen. Es ist ein harter Prozess, sein eigenes Konsumverhalten auf ein Niveau zu heben, das ich als erwachsen betrachte. Für alle. Mir hat am meisten geholfen, nicht mehr unvorbereitet einkaufen zu gehen. Wer sich einfach ins Weihnachtsgeschäft stürzt, wird blindlings in jede aufgestellte Falle tappen, und es sind einige aufgestellt.
Danke für das Stichwort! Was legen denn nun aufgeklärte Eltern dem Kind unter den Weihnachtsbaum?
Auch hier gilt: sich Zeit nehmen und vorbereiten. Ich rate dazu, gewisse Läden, die hauptsächlich kurzlebigen Plastikschrott aus China oder Billigstkleider anbieten, ganz einfach zu meiden. Es lohnt sich, auch für ein Kindergeschenk etwas mehr zu bezahlen und dafür Qualität zu bekommen. Als Eltern kann man das relativ gut einschätzen. Und noch mal: Zum Scheitern verurteilt sind Einkäufe, bei denen man einfach losgeht und sich «inspirieren» lässt.
Und wenn sich das Kind eben genau diesen Plastikschrott wünscht?
Da wäre nachgeben natürlich einfacher. Aber so unsexy das klingt: Als Eltern darf man vor der zugegebenermassen schwierigen Aufgabe, das Kind zu einem verantwortungsvoll handelnden und konsumierenden Menschen zu erziehen, nicht kapitulieren.