Schlafwandeln
Wenn das Kind in der Nacht duchs Haus wandert
Von Andreas Grote
Fast jedes dritte Kind schlafwandelt irgendwann. Sorgen müssen sich Eltern deswegen keine machen. In manchen Fällen sind aber Sicherheitsvorkehrungen nützlich.
Schon mehrere Tage steht bei Familie Sesemann in Frankfurt die abends gut verriegelte Haustür morgens immer wieder weit offen. Da nichts gestohlen wird, vermutet der Hausherr einen Geist. So legen sich Herr Sesemann und ein befreundeter Doktor nachts auf die Lauer. Als es ein Uhr schlägt, hören die beiden kurz darauf, dass die Haustür entriegelt wird. Sie eilen nach unten. Dort steht Heidi mit blossen Füssen im weissen Nachtkleidchen im Türrahmen und schaut verwirrt in den grellen Armleuchter des Doktors. Der packt das Mädchen behutsam und bringt es ins Bett zurück. «Sesemann, dein kleiner Schützling ist (...) mondsüchtig, völlig unbewusst hat er dir allnächtlich die Haustür aufgemacht», sagt der Doktor.
Vererbte Veranlagung
Johanna Spyri schildert in ihrem weltbekannten Roman «Heidi» sehr genau, was sich auch heute in Familien mit Kindern oft nachts abspielt. Nur der Name hat sich geändert: Was zur Entstehungszeit von Spyris Roman gegen 1880 der Volksmund noch Mondsüchtig nannte, heisst heute Schlafwandeln. «Denn mittlerweile weiss die Wissenschaft, dass der Mond mit dieser eigenartigen Mischung aus Wachzustand und Schlaf gar nichts zu tun hat», sagt der Schlafmediziner Ramin Khatami von der Klinik Barmelweid. Schlafwandeln gehört zu den Aufwachstörungen, im Fachjargon Parasomnien. Sie treten besonders im Kindesalter gehäuft auf.
Kinder zwischen vier und sechs Jahren schlafwandeln recht häufig. Schätzungen gehen davon aus, dass fast jedes dritte Kind ein oder auch mehrmals in diesem Alter in der Nacht das Bett verlässt und schlafend herumläuft. «Schlafwandeln ist die beeindruckendste Aufwachstörung, denn Betroffene können durchaus komplexe Handlungen erledigen wie sich anziehen, aus dem Kühlschrank Essen holen oder die Haustür öffnen», sagt Khatami.
Die Veranlagung dazu ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vererbt. «Wenn ein oder beide Elternteile selbst als Kind unter einer Aufwachstörung gelitten haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr gemeinsames Kind das gleiche Problem hat laut neueren Studien um das 7- bis 8-Fache erhöht.» Fast alle kindlichen Schlafwandler verlieren aber ihre Aufwachstörung spätestens mit der Pubertät wieder, da das Gehirn dann ausgereift ist. Nur 2–3 Prozent der Erwachsenen schlafwandeln noch. «Den genauen Hintergrund der Aufwachstörungen verstehen wir allerdings immer noch nicht», sagt Ramin Khatami.
Dazu veranlagte Kinder wachen in der Tiefschlafphase einfach auf. Das passiert immer in der ersten Nachthälfte, etwa ein bis zwei Stunden nach dem Einschlafen. Auslöser kann ein zu hoher Schlafdruck und damit eine zu intensive Tiefschlafphase durch zu wenig Schlaf in den Nächten zuvor sein, oder auch eine schlagende Uhr, ein lautes Geräusch vor dem Haus oder auch der Drang zur Toilette gehen zu müssen.
Bitte nicht aufwecken
Während andere Kinder sich dann einfach umdrehen und weiterschlafen, wacht bei Schlafwandler* innen nur ein Teil des Gehirns auf. «Die Motorik erscheint wach, andere Funktionen des Gehirns schlafen aber noch tief und fest», sagt Ramin Khatami. So sind Sensorik, Bewusstsein und Erinnerung komplett ausgeschaltet. Aufwecken lassen sich Kinder in diesem Zustand nur schwer bis gar nicht. «Eltern sollten das auch besser lassen, denn das Kind bekommt von der Situation sowieso nichts mit, es leidet auch nicht darunter, im schlimmsten Fall wehrt es sich gegen die Aufwachversuche und wird aggressiv», sagt Khatami. Denn auch ihm vertraute Menschen werden in dem Moment nicht erkannt.
Allerdings stehen nur die wenigsten Buben und Mädchen mit Aufwachstörung wie Heidi in der Nacht auf und laufen herum. «Die allermeisten Kinder sitzen eher einfach mit offenen Augen und verwirrtem Gesichtsausdruck im Bett, zupfen etwas an ihrem Bettzeug oder Pyjama herum, reden vielleicht noch etwas Unverständliches und legen sich nach ein paar Minuten wieder hin», sagt Ramin Khatami.
Panik mitten in der Nacht
Sehr viel beängstigender ist der sogenannte Nachtschreck, den aber nur zwei bis fünf Prozent der Kinder je bekommen. Etwa ein oder zwei Stunden nach dem Hinlegen schrecken sie mit lautem Geschrei hoch und zeigen Anzeichen von grosser Furcht wie aufgerissene Augen, schnelle Atmung, Herzrasen und verspannte Körperhaltung. «Der Schreck liegt aber vor allem bei den Eltern, das Kind leidet nicht darunter und kann sich am nächsten Morgen auch nicht daran erinnern», sagt Khatami. Nach etwa 15 Minuten ist der Schreck vorbei.
Zwar gefährdet ein Schlafwandler in der Regel nicht andere, doch er kann sich selbst dabei erheblich verletzen. Denn Schlafwandler kennen zwar die Wege im Haus, laufen aber trotzdem stur gerade aus und achten weder auf Treppe noch geschlossene Türen, herumliegende Gegenstände oder Kanten an Tischen. «Wer einen herumlaufenden Schlafwandler in der Familie hat, sollte daher unbedingt gefährliche Kanten an Möbeln mit Schaumstoff entschärfen und jeden Abend vor der Bettgehzeit den Boden von herumliegendem Spielzeug aufräumen, die Bettmatratze auf den Boden legen, Haus- und Balkontüren sowie Fenster sorgfältig abschliessen und den Schlüssel verstecken», rät Ramin Khatami.
Auch ein Hochbett scheidet für Schlafwanderer als Schlafstätte aus, denn sie würden beim Aufstehen herunterfallen und sich verletzen. Besitzt das Haus eine Treppe, sollte auf dem Treppenabsatz nachts ein Sicherheitsgitter installiert sein. Dem Schlafwandler helfe zudem ein Orientierungslicht im Zimmer oder Flur. Praktisch ist auch ein kleines Glöckchen an der Kinderzimmertür, das die Eltern weckt, wenn das im Schlaf wandelnde Kind sein Zimmer verlässt.
Aufwecken sollten Eltern ihr Kind nicht, wenn es schlafwandelt. Das Kind könne sich dadurch erschrecken, denn es kann sich nicht erinnern, überhaupt aufgewacht und aufgestanden zu sein. «Besser ist es, das Kind sanft mit leichten Berührungen und begleitenden leisen Worten zurück ins Bett zu führen oder zu beobachten, bis es von alleine wieder ins Bett findet», sagt Ramin Khatami. Danach können sich auch die Eltern wieder ins Bett begeben, ein erneutes Schlafwandeln in der gleichen Nacht passiert fast nie.
Kommt es nur einmalig oder selten zu Schlafwandeln, sollten Eltern das Thema mit ihrem Kind auch danach nicht weiter thematisieren oder gar dramatisieren. «Das erschreckt die Kinder unnötig und könnte dazu führen, dass sie vor dem Einschlafen eine Angst entwickeln, die wiederum ein Verstärker fürs Schlafwandeln sein kann», sagt Ramin Khatami.
Medikamente gibt es nicht
Besser solle man versuchen, die auslösenden Faktoren zu vermeiden. «Oft reicht schon das Anpassen des Schlafrhythmus aus, damit das Kind genügend schlafen kann.» Feste Zubettgehzeiten und Rituale wie das Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte, helfen Kindern sich an den Tag-Nacht-Rhythmus zu gewöhnen und zur Ruhe zu kommen.
Kommt das Schlafwandeln aber über einen längeren Zeitraum vor, verlässt das Kind häufig das Bett, verletzt sich gar bei seinen nächtlichen Ausflügen oder wirkt über den Tag extrem müde, sollte man sich doch bei einem Schlafmediziner vorstellen. «Es gibt Methoden, wie das Hinlegen eines harten Kunstrasens vor dem Bett, mit denen man die Schlafwandler darauf trainiert beim Verlassen des Bettes aufzuwachen und damit das Schlafwandeln zu stoppen», erklärt Khatami. In sehr hartnäckigen Fällen könne man auch über Medikamente reden. «Sie kommen aber nur für eine kurze Zeitspanne in Betracht.» Denn offiziell zur Therapie des Schlafwandelns zugelassene oder von Studien empfohlene Medikamente gibt es nicht.
Auch Schlafwandler können bei den Grosseltern, bei Freunden oder im Ferienlager übernachten. «Einem Kind dies zu verbieten, würde die Situation viel mehr belasten als das Risiko, auch mal auswärts schlafzuwandeln», sagt Khatami. «Dann müssen die Eltern im Vorfeld den Grosseltern oder den Betreuern Bescheid geben, wie sie Auslöser vermeiden und wie sie sich verhalten sollen, wenn ihr Kind trotzdem schlafwandelt».