Weihnachten
Weihnachten ohne Streit? Ja, das geht!
Im Trainer unterm Tannenbaum: Die Autorin Henriette Kuhrt weiss, ob das Stil hat. Sie verrät uns, wie wir selbst Weihnachten ohne Nervenzusammenbruch und Familienzwist über die Bühne bringen.
Weihnachten 2020: In Pandemiezeiten ist die Verunsicherung gross, denn die behördlichen Vorgaben wechseln immer wieder. Wie viele Personen dürfen zusammen feiern? Aus wie vielen Haushalten? Darf man nun noch im privaten Kreis singen oder nicht? Das Gespräch mit Stil-Expertin Henriette Kuhrt fand zu einer Zeit statt, in der man hoffte, die Zahl der täglichen positiven Coronatests werde an Weihnachten massiv tiefer sein, als sie es nun tatsächlich ist.
wir eltern: Frau Kuhrt, warum setzen uns ausgerechnet die Festtage so unter Druck?
Henriette Kuhrt: Weihnachten hat zu einer Art Wettrüsten geführt – alles muss erlesen und teuer sein. Der Baum, die Geschenke, das Essen, die Kleidung. Irgendwann haben wir Zustände wie bei einer
indischen Hochzeit, für die alle einen Kredit aufnehmen müssen, damit das Fest überhaupt steigen kann.
Dabei ist Weihnachten doch das Fest der Liebe – wieso streiten wir uns gerade da so häufig?
Weihnachten ist ein bisschen so wie das Dschungelcamp: Es gibt ein aufwendiges Setting und Menschen, die gezwungen sind, Zeit miteinander zu verbringen. Wenn man überhaupt nicht aufeinander
eingespielt ist, dafür aber seinen Affekten freien Lauf lässt, bietet der Weihnachtsbaum ein grossartiges Bühnenbild, um endlich miteinander abzurechnen.
In Sachen Lebensstil kennt Henriette Kuhrt (*1977)
sich aus, sie schreibt regelmässig für die «NZZ» darüber. 2019 erschien ihre Kolumnensammlung «Hat das Stil?» (Midas), im Frühjahr 2021 kommt «Im Dschungel
des Miteinanders» (Goldmann) heraus, den Ratgeber schrieb sie zusammen mit Sarah Paulsen. Er wird als
der «ultimative Verhaltensguide für das 21. Jahrhundert»
beworben. Kuhrt lebt mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter in München.
Sollte man also, um des Friedens willen, beim Festessen auf Themen mit Streitpotenzial verzichten?
Oh ja. Die grossen politischen Konflikte auf persönlicher Ebene zu verhandeln, ist der grösste Fauxpas während des Festessens. Rassismus, Umweltschutz, Autofahren, Feminismus: Das sind Themen, bei denen es schnell ans Eingemachte geht. Als Gast ist man gewissermassen ein emotionaler Luftreiniger. Da kneift man den Hintern fest zusammen und sieht über Sticheleien, Ahnungslosigkeiten und «Was, isst du immer noch kein Fleisch?» hinweg. Wenn sich die anderen schlecht benehmen, muss man da noch lange nicht drauf reagieren.
Darf ich mich einmischen, wenn mein Neffe sich während des Essens immer wieder das Messer in den Mund steckt, mit dem Stuhl wippt oder rülpst?
Ach was – freuen Sie sich, dass Ihre Kinder aus der Schusslinie sind. Und darüber, dass Sie hinterher etwas zum Lästern haben.
Im Alltag wird vielleicht nicht so sehr auf gute Tischsitten geachtet, an Weihnachten umso mehr. Da sollen die Manieren glänzen wie das Festtagsbesteck – kann das gut gehen?
Die Silberlöffel glänzen doch auch nur, wenn man sie rechtzeitig poliert. Darum hat es keinen Sinn, am 24. von allen zu erwarten, dass sie plötzlich kniggekonform am Tisch hocken. Man sollte den Kindern vorher vermittelt haben, dass besondere Anlässe besonderes Benehmen erfordern. Wenn das nicht machbar ist, hilft es nur, möglichst viel eigene Grazie an den Tag zu legen, darüber hat man wenigstens Kontrolle: dafür sorgen, dass alle sich wohlfühlen, über schlechtes Benehmen der anderen hinwegsehen, Humor. Es sind ja nicht unbedingt die Kinder, die sich schlecht benehmen, es gibt ja auch sehr viel Halsstarrigkeit bei Erwachsenen.
Sind uns die guten Manieren verlorengegangen?
Ich würde statt Tischmanieren lieber von Tischkultur sprechen: Die beginnt beim Einkauf, der Zubereitung von Essen, einer gemeinsamen Mahlzeit. Und gilt für jeden normalen Wochentag, das ist für mich das wichtigere Erziehungsziel – auch wenn ich mich zugleich vergeblich am Ellenbogen abarbeite.
Der Ellenbogen lässt sich vielleicht noch diskret vom Tisch schieben – so einfach geht das mit Worten nicht. Wie reagiere ich, wenn wir eingeladen sind und das Kind verkündet, dass es ihm nicht schmeckt?
Sagen Sie ein paar entschuldigende Worte zum Gastgeber und finden Sie irgendeine Komponente, die dem Kind mundet – eine Kartoffel wird ja wohl dabei sein.
Ewiger Streitpunkt ist auch immer wieder der Zeitpunkt der Bescherung: Die Kinder quengeln, sie wollen vor dem Essen die Geschenke öffnen – Oma besteht darauf, dass das schon immer danach geschah. Wem gebe ich nach?
Bescheren Sie unbedingt vorher, dann kann man hinterher in Ruhe das Essen geniessen. Warum soll man denn alle kasteien – die Kinder mit der Warterei, die Erwachsenen mit genervten Kindern?
Wenn ich als junge Familie zum ersten Mal die Grosseltern zu Weihnachten einlade: Ist es in Ordnung, eigene Gepflogenheiten einzuführen, oder sollte man aus Respekt denen der älteren Generation folgen?
Ach, da braucht man doch keine Show an den Tag legen. Die Grosseltern erfreuen sich an den Enkeln und an dem guten Essen. Und falls sie es nicht tun, dann hat man ein Problem, das man auch mit dem besten Master
of Ceremony nicht lösen kann.
Und umgekehrt: Wie sehr darf ich als Grosselternteil in die Gestaltung der Festlichkeiten eingreifen? Darf ich sagen, wenn mir was nicht passt? Wenn etwa keine Weihnachtslieder gesungen werden?
Wenn mir etwas wirklich wichtig ist – wie etwa der Wunsch, zu singen – dann sollte ich das vorher mit den Gastgebern und den anderen Gästen absprechen. Dann kann man gemeinsam etwas planen. Was den praktischen Teil angeht, da sollte man die Gastgeber nicht mit Kleinkram belästigen, sondern lieber Hilfe anbieten.
Meine Schwiegermutter redet mir an Weihnachten noch mehr rein als sonst. Wie weise ich sie höflich in ihre Schranken?
Ich würde die Schwiegermutter schon im Vorfeld mit einspannen. Sie möchte singen? Wunderbar, dann kann sie sich um Liedauswahl, Noten und Pianobegleitung
kümmern. Sie mag einen bestimmten Wein? Soll sie ihn doch mitbringen. Sie will in eine bestimmte Messe? Nur zu, sie kann gerne die Kinder mitnehmen. Und wenn ihre Vorstellungen zu unpraktisch werden, kann man das auch offen so sagen.
Die Oma hätte ihre Enkelin so gern im Samtkleid gesehen und rümpft die Nase, die kleine Ruth trägt nämlich lieber Hoodie zum Fest. Was tun? Die Kinder in Festtagskleider zwingen?
Die Zeiten, an denen man Kinder ins Schottenkleid zwingen konnte, sind schon lange vorbei. Ich würde Smart Casual als Grundlage nehmen, darüber hinaus macht sich jeder so schick, wie er es gerne hätte.
Wie reagiere ich, wenn mein Kind herausposaunt, dass der von Oma geschenkte Pullunder ein doofes Geschenk sei?
Schnell das Thema wechseln und das Problem frühestens am 25. regeln – mit dem Kind über Dankbarkeit sprechen, mit der Oma über Umtauschmöglichkeiten.
Wie reagiere ich auf ein Geschenk fürs Kind, das ich unpassend finde?
Mein Vater hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Kindern an Weihnachten Dinge zu schenken, die explizit dazu gedacht waren, auf meinen Nerven herumzutrampeln: riesengrosse Polyesterbären, ein Zimmerfussball (!), der nicht nur blinkte, sondern auch unglaublichen Krach produziert hat. Darüber konnte er sich schon im Vorfeld, während und tagelang nach der Bescherung freuen – sprichwörtlich wie ein kleines Kind. Jetzt ist er seit zwei Jahren tot und ich vermisse ihn und seinen anarchischen Humor sehr. Vor allem an Weihnachten. Ich wünschte, er wäre da und würde den Kindern irgendeinen Schrott schenken. Lassen Sie es also gut sein. Wenn Ihre Kinder lernen, dass man Menschen so nehmen muss, wie sie sind, dann haben sie davon viel mehr als von rigiden «No Barbies, no fun»-Erziehungsrichtlinien.
Das Teenager-Kind möchte währenddessen an Heiligabend in den Ausgang – gehört sich das?
Das ist ein gutes Zeichen, nämlich dass Sie ein unternehmungslustiges Kind mit Freunden zustande gebracht haben. Nach 23 Uhr und wenn die Geschenke durch sind, ist das doch kein Problem. Wünschen Sie ihm viel Spass und sorgen Sie dafür, dass es sicher nach Hause kommt.
Mir ist das Festtagsgedöns sowieso nicht so wichtig, mein Partner schmückt schon im November die Wohnung – wie finden wir einen Konsens?
Klassische Rollenverteilung: einer backt die Plätzchen, der andere isst sie.
Hat es Stil, sein Kind wegen des Christkinds an der Nase rumzuführen?
Ich habe ja den Verdacht, dass meine Kinder mich seit Jahren an der Nase herumführen – und nur so tun, als würden sie daran glauben, weil es so Tradition ist.
Es gibt da diesen Onkel, der besonders viel Sitzfleisch hat: Wie gebe ich meinen Gästen höflich zu verstehen, dass das Fest nun wirklich vorbei ist?
Wenn man selber im Sitzen einschläft, muss man das einfach sagen: «Leider muss ich jetzt dringend ins Bett, so gerne ich hier noch mit dir plaudern würde … es war ein schöner Abend … magst du ein paar Plätzchen mitnehmen?»
Wie feiern Sie Weihnachten? Haben Sie einen So-läuft-nichts-schief-Trick?
Mein Mann und ich machen das gemeinsam, ausserdem spannen wir die Gäste mit ein: Der eine bringt die Vorspeise mit, die andere den Nachtisch. Selbst meine 96-jährige Schwiegermutter kann vom Sofa aus festlegen, wo welcher Tannenbaumschmuck hingehört.
Sie haben wirklich nie Zoff unterm Tannenbaum?
Klar! Autos, Markenkleidung, Beautyzeug – das ist mir alles egal, aber bei einer Sache mache ich eine Ausnahme: beim Weihnachtsbaum. Es muss der Schönste, Dichteste, Prachtvollste sein. So hoch, dass er gerade noch in die Wohnung passt. Jedes Jahr diskutieren mein Mann und ich auf dem Weihnachtsbaummarkt darüber, ob das «wirklich sein muss». Natürlich muss es, das weiss auch der Baumverkäufer, der dieses Schauspiel mittlerweile kennt. Einmal haben wir eine Ausnahme gemacht, da wollten wir die Tanne selber fällen. Wir sind endlos lang mit den Kindern durch den kniehohen Schnee gestapft, nur um am Ende mit einer rostigen Säge eine murkelige Tanne abzusägen. Der Plan war, dass ich mich dabei heroisch und naturverbunden fühle, tatsächlich war ich nur nass und wütend und dann ist auch noch das Auto im Schlamm steckengeblieben. Ich empfehle jedem, einen Paartherapeuten hinzuzuziehen, bevor man im Winter mit seinem Partner, Säge und Axt in den Wald geht.
Leoni Hof studierte Neuere deutsche Literatur und Medien und einige Nebenfächer der Kategorie «Spannend, aber nix zum Geld verdienen». Nach einem Ausflug ins Verlags-Lektorat landete sie im Journalismus. Eigentlich schreibt sie über Kunst, Kultur und Zeitgeist-Themen, doch seit sie Mutter einer Tochter ist, treiben sie auch die Themen Elternschaft und Erziehung um.