Erziehung
Warum Ratgeber oft nur ratloser machen
Elternratgeber wollen uns anleiten, das mit dem Kind gut oder noch besser zu machen. Den einen hilfts, andere setzt es zusätzlich unter Druck. Brauchen wir Erziehungsratgeber überhaupt?
Mal ganz ehrlich: Wie viele Bücher zu Schwangerschaft, Kindererziehung und Familienleben stehen in Ihrem Büchergestell? Zwei? Fünf? Oder deutlich mehr? Hatten Sie vor, so viele zu kaufen, oder ist es, wie bei den meisten Eltern, einfach so passiert? Dass sich die Bücher eins nach dem anderen, schwupps, zur Hintertür hereingeschlichen haben. Weil das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten mit seinem übergrossen Willen hartnäckig am Geduldsfaden riss. Weil es manchmal wie ein Wesen von einem anderen Stern wirkt, zu dem die Bedienungsanleitung fehlt. Weil das neue Erziehungsbuch von der viel besprochenen Autorin die Hoffnung weckt, der Alltag mit Kind würde stressfreier, vielleicht sogar fröhlicher.
Und manchmal, oh Wunder, trifft das sogar zu: Das Familienleben wird harmonischer, wenigstens einen Moment lang. Dann etwa, wenn die Lektüre einem die Augen für Zusammenhänge öffnet, die bisher im Dunklen lagen. Beispielsweise, dass ein Kleinkind während eines Wutanfalls kognitiv und mit Sprache nicht zu erreichen ist, sondern einzig über Mimik und Gestik, Tonfall oder Berührung. Macht Sinn, doch woher hätte man es wissen sollen? Schliesslich haben die meisten Eltern weder eine Ausbildung in Babyhandling oder Kleinkinderziehung und schon gar nicht in Psychologie oder Konfliktmanagement. Deshalb der Griff ins Ratgeberregal.
Das Angebot an Erziehungsratgebern wächst täglich
«In Zeiten grosser Ratlosigkeit haben Ratgeber Hochkonjunktur», sagt Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Elizabeth Högger Klaus. «Sie sind dazu da, Lücken zu füllen, das gilt auch für Elternratgeber.» Die Mutter von zwei Kindern im Alter von vier und neun Jahren ist Co-Präsidentin von Entresol, einem Netzwerk für Philosophie und Wissenschaften der Psyche. Seit einiger Zeit befasst sie sich sowohl aus beruflichem wie auch privatem Interesse mit dem Genre der Erziehungsratgeber, die sie kritisch beurteilt: «Ratgeber laufen Gefahr, die Probleme zu reproduzieren, die sie zu lösen vorgeben», so Högger.
Laut Schätzungen gibt es im deutschsprachigen Raum rund 2000 Erziehungsratgeber. Eine genaue Angabe lässt sich nicht machen, weil beinahe täglich neue Bücher hinzukommen. Der Markt für Elternratgeber ist zweifellos gross, wächst stetig und beschränkt sich längst nicht mehr nur auf Papier. Wer keine Bücher kauft, informiert sich digital über Blogs, Apps und Podcasts – oder ist ein Mann; Männer lesen nämlich deutlich weniger Erziehungsratgeber als Frauen. Doch dazu später mehr.
Wir fühlen uns in der Kleinfamilie oft sehr hilflos
Es gibt verschiedene Gründe, wieso der Bedarf an Erziehungsliteratur so enorm ist. «Seit wir nicht mehr in der Grossfamilie leben, lernen wir nicht mehr über Vorbilder und andere Familienangehörige, wie mit Kindern umzugehen ist. Wir sind in der Kleinfamilie ganz auf uns allein gestellt», sagt Högger. Mehr noch: Oft distanzieren wir uns von der Art und Weise, wie unsere Eltern uns erzogen haben, wollen es anders, selbstverständlich besser machen. Ganz besonders, wenn wir erst spät Eltern werden und nicht mehr ein halbes Dutzend Kinder am Tisch sitzen haben, die sich automatisch gegenseitig miterziehen. Bei einem oder zwei Kindern lastet viel mehr Druck auf den Eltern, dass aus dem Nachwuchs etwas Anständiges wird.
Doch alle diese Erwartungen, die wir an uns selbst haben, die sich aber auch in der Gesellschaft und in Erziehungsratgebern finden, machen uns das Leben schwer. Im Gespräch mit «wir eltern» nennt Psychologin Högger fünf Bereiche, die sie besonders problematisch findet:
1. Grenzenloses Verständnis
«Heute wird vorausgesetzt, dass man fürs Kind unendliches Verständnis hat. Das ist erst einmal richtig. Doch was ist mit den eigenen schwierigen Gefühlen?», fragt die Psychologin. Manchmal sind Eltern so gestresst und überfordert, dass sie unfähig sind, auf die Bedürfnisse des Kindes angemessen einzugehen. Hinterher plagt sie dann das schlechte Gewissen und sie fühlen sich schlecht, weil sie glauben, versagt zu haben.
2. Ausgeklügeltes Förderprogramm
Damit aus dem Kind ein leistungsfähiger Erwachsener wird, muss es vielseitig und gezielt gefördert werden, so der Tenor. Mozart, Fremdsprachen, Sport und Wissen sollen möglichst früh ans Kind herangetragen werden. Aber auch spielen sollten Eltern regelmässig mit ihm. «Doch was, wenn man zu müde ist oder einfach keine Lust hat? Ist man dann eine schlechte Mutter, ein nachlässiger Vater? Sicher nicht!»
3. Totales Urvertrauen
Die Wissenschaft hat gezeigt, dass Urvertrauen und eine sichere Bindung zu den primären Bezugspersonen die Basis sind für ein glückliches Leben. «Es ist ein grosses Verdienst der Bindungsforschung, dass die frühkindliche Beziehungsentwicklung untersucht wurde», sagt Högger. «Gerade Mütter stehen dadurch jedoch besonders unter Druck, nichts falsch zu machen oder zu verpassen. Dabei sind Babys von Anfang an fähig, zu verschiedenen Menschen Beziehungen aufzubauen, wie gerade auch interkulturelle Studien zeigen.»
4. Bedingungslose Verfügbarkeit
Mutterschaft und Mutterliebe werden in der Ratgeberliteratur gern idealisiert und als etwas Natürliches dargestellt, das Frauen selbstverständlich zu erbringen haben. Dabei werden die in der Gesellschaft vorherrschenden unbewussten Rollenerwartungen weder hinterfragt noch wird thematisiert, wie erschöpfend das Muttersein ist, wenn von Frauen eine bedingungslose Verfügbarkeit erwartet wird. Högger wünscht sich, dass reflektiert wird, welche Rollenbilder durch die Ratgeber reproduziert werden.
5. Gnadenlose Vereinfachung
Da die meisten Eltern aufgrund ihrer Mehrfachbelastung kaum Zeit haben, sich vertieft mit dem Erziehungsthema auseinanderzusetzen, kommen viele Erziehungshilfen sehr verkürzt daher. Beliebt sind Tipps à la «5 Dinge, die jedes Kind hören sollte» oder «7 Schritte zu windelfrei». Da Erziehungs- und damit Beziehungsschwierigkeiten zwischen Eltern und Kindern dabei oft als Probleme mit biologischen Ursachen dargestellt werden, wird auch hier suggeriert, dass es eine «natürliche» Mutteroder Elternschaft geben soll, was die Chancen untergräbt, gesellschaftliche Rollenbilder zu hinterfragen», so Högger.
Eltern müssen lernen mit Kontrollverlust umzugehen
Die grosse Nachfrage nach Rat macht deutlich, wie sehr Eltern auf der Suche sind nach Unterstützung und Orientierungshilfe. Das beginnt bereits in der Schwangerschaft. Christina Schlatter hat als Gynäkologin in Zürich beinahe täglich Kontakt zu schwangeren Frauen und stellt fest, dass sich heutige Schwangere unverhältnismässig stark damit befassen, was sie essen dürfen, obwohl es kaum je Komplikationen mit Lebensmitteln gebe. Ihre Erklärung: «Es passiert etwas mit dem Körper, das man nicht unter Kontrolle hat – und Angst macht. So will man wenigstens die Nahrung in den Griff bekommen, und dazu gibt es im Internet ganz viele Anleitungen.»
Doch nicht während Schwangerschaft und Geburt, auch später, im Alltag mit dem Kind ist es kaum möglich, immer die Kontrolle zu behalten. Oft geht es ganz schön drunter und drüber. Immer wieder passiert Neues und Unerwartetes. Manches davon ist unglaublich schön, anderes zutiefst beängstigend. Dabei findet es Schlatter, selbst Mutter von zwei erwachsenen Kindern, keineswegs nur schlecht, wenn Eltern sich Sorgen machen: «Sorgen sind auch ein Zeichen dafür, dass etwas passiert, was erhöhte Aufmerksamkeit erfordert», sagt die Gynäkologin und wünscht sich, dass gerade Umbrüche und Phasen der Veränderung nicht immer mit einfachen Tipps und Verhaltensempfehlungen vorschnell abgeschlossen werden. «Solche Zeiten könnten auch dazu einladen, sich der Wirklichkeit der neuen Herausforderung zu stellen. Denn nur durch die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt kann ein wichtiger Entwicklungsschritt geschehen.»
Männer lesen selten Ratgeberbücher, warum?
Sind Väter darin besser, einfach geschehen zu lassen? Wissenschaftliche Untersuchungen, Umfragen im Bekanntenkreis und ein Gespräch mit Daniel Bünter, Väterberater des Kantons Zürich, zeigen nämlich: «Die meisten Männer sind äusserst zurückhaltend im Lesen von Elternratgebern. Sie überlassen diesen Job lieber der Frau», so Bünter. Der Vater von zwei Kindern im Primarschulalter vermutet, dass es damit zusammenhängt, dass Männer grundsätzlich ungern nach Rat oder Orientierung fragen, sondern den Weg selber finden wollen. «Es ist aber sicher auch Ausdruck eines traditionellen Rollenverständnisses, in dem immer noch die Frau für Erziehungsfragen zuständig ist», so Bünter. Am Vater-Kind-Treffen im September waren sich die sieben anwesenden Männer einig: Lieber verbringt Mann die Zeit mit den Kindern und verlässt sich auf sein eigenes Gefühl, als die Nase in Erziehungsbücher zu stecken.
Bünter ermutigt die Väter, ihren eigenen Weg zu entdecken, hat aber auch den Eindruck, dass es sich die Väter manchmal ein bisschen zu einfach machen, wenn sie sich in Erziehungsfragen nicht weiterbilden. «Wollen Väter wirklich Teil des Kinderalltags sein, müssen sie anfangen, sich und ihre Gefühlswelt zu reflektieren. Das ist ein anstrengender Prozess, denn Männer sind sich das oft nicht gewohnt», sagt Bünter. Und empfiehlt, den einen oder anderen Ratgeber zu lesen, vielleicht sogar einen, der speziell für Väter geschrieben wurde.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.