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Interview
Warum sind Mütter besonders empfänglich für Schuldgefühle?
Mütter haben so viele Schuldgefühle, weil der Mythos von der allgeduldigen, rundum helfenden und selbstlosen Mutter beherrschend ist, sagt Psychologin Julia Onken. Es ist Zeit, sich davon zu befreien.

Monika Schwarz
Julia Onken ist Psychologin, Bestsellerautorin und Mutter von zwei Töchtern. Sie leitet das von ihr gegründete Frauenseminar Bodensee.
«wir eltern»: Sie führen Seminare für Frauen durch mit dem Titel «Schluss mit Schuldgefühlen». Sind Frauen anfälliger für Schuldgefühle?
Julia Onken: Ja, eindeutig. Ich meine sogar, Schuldgefühle sind ein Frauen- und ganz besonders ein Mütterthema. Mutter und Schuldgefühle sind Synonyme. Mütter denken, dass sie immer irgendwas falsch machen im Umgang mit ihren Kindern. Hat das Kind Schulschwierigkeiten, trifft sie die Schuld. Ist es später in der Beziehung unglücklich, war die Mutter ein schlechtes Vorbild. Es ist ein uraltes Thema.
Worauf führen Sie dies zurück?
Adam und Eva prägen uns bis heute. Als Eva in den Apfel vom Baum der Erkenntnis biss und ihn an Adam weitergab, hat sie ihn sozusagen gezwungen, ebenfalls davon zu essen. Eva ist also schuld an der Vertreibung aus dem Paradies. Diese Geschichte setzt sich fort bis in die heutige Zeit: Wird eine Frau sexuell belästigt, wird ihr heute noch vorgeworfen, sich falsch verhalten zu haben – sich zu verführerisch gekleidet, sich nicht gewehrt zu haben. Der Mann hingegen wollte die Frau gar nicht belästigen, sondern ist das Opfer seiner Hormone.
Woran liegt es, dass Mütter besonders empfänglich sind für Schuldgefühle?
Es gibt einen Muttermythos und er hängt in unseren Köpfen fest. Er lautet: Die gute Mutter ist allgeduldig, rundum helfend, sich selbst vergessend. Das Gegenteil von einem Menschen, der gut für sich sorgt und ein erfülltes Leben führt. Die selbstlosen Mütter werden jedoch hofiert, mit dem Muttertag als zynischem Höhepunkt. Wer diesem Muttertyp nicht entspricht, gilt als schlechte Mutter. Es ist an der Zeit, dass wir uns vom Muttermythos befreien.
Wie geht das?
Indem wir ihn analysieren, seine historischen Einflüsse verstehen und erkennen, wie es zu diesem Rollenmodell gekommen ist. Der Muttermythos ist lebensfeindlich und eine Mutter, die sich aufopfert, ist ein schlechtes Vorbild und eine Bürde für ihre Kinder. Die hilfreichste Mutter ist die, die gut zu sich selbst schaut. Das klassische Mutterbild ist aber auch Teil des patriarchalen Denksystems. Während die Männer sich in Chefposten einrichten, bleiben die Frauen zu Hause und halten ihnen den Rücken frei. Oder sie arbeiten in kleinen Pensen, fern der Chefpositionen und organisieren ihr Berufsleben um die Kinder herum.
Und haben dann Schuldgefühle, wenn sie ihre Kinder fremdbetreuen lassen.
Das Gute ist, dass wir uns dessen bewusst werden, dass wir darüber reden. Das war nicht immer so. Die heutige Generation realisiert, dass Schuldgefühle nicht zu einem erfüllten Leben gehören. Das Dümmste wäre, sie zu verscheuchen oder nicht wahrhaben zu wollen. Dann werden sie nur noch stärker.
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns mit unseren Schuldgefühlen auseinanderzusetzen?
Ja, wir müssen unseren eigenen Anteil und das eigene Unvermögen anerkennen. Die meisten Menschen, und dazu zählen auch die Eltern, machen das, was ihnen möglich ist. Wenn sie erkennen, dass sie ihrem Kind zu wenig Zuwendung geben, müssen sie die Gründe herausfinden: Ist es wegen der Arbeit, weil sie gestresst nach Hause kommen, wegen der eigenen Geschichte? Vielleicht stellen sie fest, dass sie selbst «Verhungerte» sind und gerade ihr Bestes geben. So lernen wir, uns selbst zu ent-schulden.
Oft möchten wir aber lieber die totale Harmonie.
Wir möchten glückliche Eltern mit glücklichen Kindern sein. Doch die meisten Lebensbereiche spielen sich in der Ambivalenz ab. Wir haben zwar vielleicht ein schönes Familienleben, aber es gibt auch einige Sachen, die schwierig sind. Deshalb müssen wir lernen, den Spagat zu machen. Die Wirklichkeit ist mannigfaltig, sie ist gespreizt. Jede Form von Schwarz-Weiss-Denken ist hinderlich. Wir müssen lernen, im Ambivalenten zu leben.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.