Vor rund zwei Jahren sass ich in meiner Wohnung in Bern und dachte: Und so geht es jetzt bis zur Pensionierung weiter? Hierhin rennen, dorthin rennen. Jeden Morgen im Eilschritt zur Kita, in den Kindergarten oder zur Arbeit stolpern. Dies erledigen, das abarbeiten, jenes abhaken.
In der Schweiz kriegen wir fast keine Luft, aber keiner merkts! Erst wenn man wieder in Freiheit ist und der Druck weg, stellt man fest, dass man mehr aushält als gewollt. Ein Hundeleben. In der Duldungsstarre.
Da wurde mir klar: Nicht nur für mich möchte ich das nicht. Ich will auch nicht, dass mein Kind mit dem Satz aufwächst: «Chum Amaru, mach, mir müesse pressiere!» Pressiere, pressiere, pressiere.
Also habe ich meine Arbeit als freie Journalistin in Südamerika wieder aufgenommen. Klar, die ersten vier Jahre waren für Amaru in der Schweiz ideal: Schöne Spielplätze, Parks, Schwimmbäder, gut fabrizierte Spielsachen, tolles Gesundheitssystem, Velo mit Anhänger inklusive Velowege, Ruhe, Sicherheit. Wenn man ganz klein oder ganz alt ist, ist die Schweiz super.
Bolivien. Als wir in La Paz ankamen, hetzte ich die ersten Tage noch völlig obsessiv mit meinem Sohn in die neue Kita. Damit wir auf keinen Fall zu spät kommen. Eine Todsünde. Aber schon bald bemerkte ich, dass mir in der Kita gar niemand tief und intensiv in die Augen schaute, wenn wir ein wenig zu spät eintrafen. Wissen Sie, dieser Blick, der sagt: Mmm, nid so guet, söt auso de nümmä passiere, gällät si. Dass man davor das Kind, das die Nacht durch schlecht geträumt hatte, nur mühsam in die Kleider quetschen konnte und es hinter sich herziehen musste, damit man statt zwanzig nur zehn Minuten zu spät kommt – interessiert niemanden.
In La Paz schaute mich also keiner eulenhaft an. Was mich erst irritierte und dann bei mir einen eigenartigen Mechanismus auslöste: Lust aufs Abchecken, wo die Schmerzgrenze liegt.